Von Laxanzien bis Insulin |
07.03.2016 15:52 Uhr |
Von Nicole Schuster / Medikamentenmissbrauch kommt bei Patienten mit Essstörungen in verschiedenen Formen vor. Welche Gefahren – auch langfristig – hier drohen, erklärt Dr. Wally Wünsch-Leiteritz, Leitende Oberärztin für Essstörungstherapie in der Klinik Lüneburger Heide in Bad Bevensen und Vorstandsmitglied im Bundesfachverband Essstörungen.
PZ: Welche Medikamente werden von Essgestörten typischerweise missbraucht und warum?
Wünsch-Leiteritz: Patienten mit bulimischer Symptomatik, also mit Ess-Brech-Sucht oder purgativer Anorexie, missbrauchen Medikamente, um ihre Kalorienaufnahme zu reduzieren und ihr Gewicht zu senken. Am häufigsten wenden sie dazu Laxanzien an. Vielen ist gar nicht bewusst, dass sie dadurch zwar ihr Gewicht – allerdings meist nur unwesentlich durch Wasserverluste – verringern können, die Kalorienaufnahme aber kaum beeinflussen. Der Missbrauch von Appetitzüglern wäre ebenfalls naheliegend, ist aber heutzutage eher selten. Das liegt vermutlich daran, dass diese Mittel nicht allzu effektiv sind.
»Eine mögliche Bezugsquelle können Internet- apotheken sein.«
Dr. Wally Wünsch-Leiteritz
Im weiteren Sinne gehört zum Medikamentenmissbrauch auch die eigenmächtige Einnahme von Kaliumpräparaten. Viele Menschen mit Essstörungen wissen, dass durch ihre Krankheit die Kaliumspiegel zu niedrig sein können. Eine Substitution ohne ärztliche Kontrolle kann wegen der geringen therapeutischen Breite des Mineralstoffs jedoch höchst gefährlich sein. Es drohen lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen.
PZ: Wie gelangen junge Patienten an die Arzneimittel?
Wünsch-Leiteritz: Kinder und Jugendliche brauchen dafür in der Regel die Hilfe eines Erwachsenen. Eine mögliche Bezugsquelle auch für Minderjährige können jedoch Internetapotheken sein. Andere junge Patienten lassen sich die gewünschten Mittel vom Arzt verschreiben, indem sie beispielsweise über eine angebliche Verstopfung klagen. Auch der Arzneischrank der Familie kann eine Bezugsquelle sein.
PZ: Welche Möglichkeiten haben Apotheker, um gegen den Missbrauch von nicht rezeptpflichtigen Mitteln vorzugehen?
Wünsch-Leiteritz: Bei Verdacht auf eine missbräuchliche Anwendung sollte das Apothekenpersonal das Kind oder den Jugendlichen ansprechen. Wenn die Zweifel bleiben, kann es die Abgabe des Präparats verweigern.
PZ: Was versteht man unter Insulin-Purging und warum ist es so gefährlich?
Wünsch-Leiteritz: Insulin-Purging bedeutet, dass sich Typ-1-Diabetiker absichtlich zu wenig Insulin spritzen. Dadurch erreichen sie, dass Zucker über den Urin ausgeschieden wird und sie abnehmen. Das Gefährliche dabei: Der Insulinmangel kann Blutzuckerspitzen mit Werten von 300 bis 400 mg/dl zur Folge haben. Die Patienten spüren davon im Gegensatz zu einer Unterzuckerung vorerst nichts. Mögliche Schäden an Nerven, Gefäßen und Organen wie Niere oder Auge können jedoch beträchtlich sein. Hier ist eine möglichst frühzeitige und enge psychotherapeutische Behandlung angezeigt.
PZ: Wie ist mit Patienten umzugehen, die mithilfe von Schilddrüsenhormonen abnehmen wollen?
Wünsch-Leiteritz: Patienten mit einer diagnostizierten Schilddrüsenunterfunktion, aber auch ohne diese Störung benutzen bisweilen die Hormone, um ihren Stoffwechsel über das gesunde Maß hinaus zu beschleunigen. Dafür nehmen sie andere Wirkungen einer Hormonüberdosierung wie Zittern, erhöhte Herzfrequenz, hohen Blutdruck oder Nervosität in Kauf. In der Klinik überprüfen wir, ob die Hormone überhaupt indiziert sind und wenn ja, ob die Dosierung stimmt. Niedergelassene Ärzte sollten bei auffälligen Patienten die Hormonbehandlung hinterfragen und die Schilddrüsenwerte engmaschig kontrollieren. /