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Mehrsprachigkeit

Vieles ist Illusion

20.02.2018  16:04 Uhr

Von Jennifer Evans / Für immer mehr Eltern ist es erstrebenswert, ihre Kinder bilingual aufwachsen zu lassen. Mehrsprachigkeit wirkt sich jedoch nicht auf die Intelligenz aus. Auch schützt sie später nicht vor Demenz. Im Gespräch mit der PZ erklärt der Psycholinguist Professor Dr. Harald Clahsen, warum der Hype ums Sprachenlernen oft an der Realität vorbeigeht.

Mit dem internationalen Tag der Muttersprache erinnert die UNESCO jedes Jahr am 21. Februar an die Vielfalt und kulturelle Bedeutung der weltweit 6000 gesprochenen Sprachen. Nur wenige Menschen beherrschen davon lediglich eine Sprache. »Global gesehen ist Mehrsprachigkeit sogar die Norm«, sagt Professor Dr. Harald Clahsen, der seit 2011 Direktor des Research Institute for Multilingualism an der Universität Potsdam ist. Demzufolge überfordere Mehrsprachigkeit Kinder nicht in ihrer kognitiven Entwicklung. Die Sorge vieler Eltern, dass die Kleinen verschiedene Sprachen nicht richtig auseinanderhalten können und sie womöglich vermischen, ist unbegründet. »Sprachen zu mischen, ist weder ein Zeichen für Überforderung noch für mangelnde Intelligenz«, betont Clahsen.

 

Mythen ranken sich dennoch um die Mehrsprachigkeit. Der Sprachwissenschaftler nennt ein Beispiel: »Angesichts dessen, wie schnell Kinder eine Sprache erfassen, könnte man auf die fälschliche Idee kommen: Je früher man mit der bilingualen Erziehung beginnt, desto besser wird das Ergebnis.« Das treffe aber nicht zu: Vielmehr existiere bis zu einem Alter von etwa sieben Jahren ein Zeitfenster, in dem Kinder eine Sprache auf muttersprachlichem Niveau erlernen könnten. Das zeigt auch eine Untersuchung zur unterbewussten Sprachfähigkeit, die Clahsens Team in Berlin mit rund 100 Personen aus der türkisch-deutschen Sprachgemeinschaft durchführte. Die Ergebnisse belegen, dass jene beiden Gruppen von Teilnehmern, die Deutsch entweder seit ihrer Geburt oder vom Kindergartenalter an lernten, die Sprache später wie eine Muttersprache beherrschten. Der dritten Gruppe, die wesentlich später mit dem Deutschlernen begann, gelang dies nicht mehr. Clahsen plädiert dafür, dieses Wissen konsequent in unser Bildungssystem zu integrieren, indem hierzulande mit dem Lernen einer zweiten Sprache bereits im Kindergartenalter begonnen wird. In der Schweiz, den Niederlanden oder skandinavischen Ländern sei man diesbezüglich wesentlich weiter.

 

Grammatik bleibt erhalten

 

Ist das sogenannte prozedurale Wissen einer Sprache – also das im Kopf automatisch ablaufende Grammatik-Programm – in der frühen Kindheit verankert, bleibt es ein Leben lang erhalten. Das Vokabular hingegen stellt als sogenanntes deklaratives Wissen nur die Oberfläche der Sprachfähigkeit dar. Und damit ist es sehr anfällig für die jeweiligen Lebensumstände: »Es schläft oder geht ganz verloren, wenn ein Sprecher es nicht ständig nutzt. Die Automatismen der Grammatik jedoch nicht. Sie können noch viele Jahre später reaktiviert werden.« Das liegt da-ran, dass der Wortschatz eines Menschen vom Input abhängig ist, die grammatischen Regeln aber nicht. Clahsens Fazit: »Ohne permanentes Training nutzt also die beste bilinguale Erziehung gar nichts.«

 

Dem Experten zufolge sollte man sich zudem bewusst machen, dass Fremdsprachenlernen ausschließlich die Mehrsprachigkeit fördert – nicht die Intelligenz. Nichtsdestotrotz trainiere aber der Umgang mit unterschiedlichen Sprachen das Gehirn, beispielsweise in den Bereichen »kognitive Kontrolle, Aufmerksamkeit und Konzentration«, sagt Clahsen. Nutze das Gehirn ein Wort aus der einen Sprache, müsse es gleichzeitig dasselbe Wort aus der anderen Sprache unterdrücken. »Das ist zwar ein gutes Training, aber Mehrsprachigkeit ist nicht die einzige Aktivität, die im Kindesalter diese Fähigkeiten schult.« Einer Sportart nachzugehen oder ein Musikinstrument zu spielen, habe vermutlich dieselben positiven Effekte. Die Hoffnung, dass sich die Lebenschancen von Kindern allein durch Mehrsprachigkeit deutlich erhöhten, muss der Forscher vielen Eltern nehmen. Ein weiterer Mythos ist, dass Personen, die bereits zwei Sprachen sprechen, eine dritte wesentlich schneller erlernen. »Es mag lediglich leichter fallen, wenn die dritte Sprache aus derselben Sprachfamilie kommt«, so Clahsen. Tatsächlich existierten aber keine wissenschaftlichen Beweise dafür.

 

Die Vorstellung eines perfekt ausbalancierten Bilingualismus ist ebenfalls eine Illusion. »Perfekt beherrscht ein Individuum immer nur eine Sprache, die anderen sind in verschiedenen Abstufungen schwächer.« Das liegt laut Clahsens Studien beispielsweise an unterschiedlichen Lernbedingungen und dem meist ungleich starken Trainingseffekt im Alltag. Er findet, die Definition von Mehrsprachigkeit sollte daher weitergefasst werden in: »Personen, die mehrere Sprachen gut oder weniger gut beherrschen.« Eltern und Erzieher sollten wissen, dass bilingual aufwachsende Kinder in den einzelnen Sprachen einen kleineren Wortschatz besitzen als monolinguale. »Die tägliche Aufnahmekapazität im Gehirn ist mit Blick auf das Vokabular einfach begrenzt.« Addiere man bei mehrsprachigen Kindern allerdings den Wortschatz aller gesprochenen Sprachen, hätten wiederum die bilingualen Sprecher die Nase vorn.

 

Kein Schutz vor Demenz

 

Bilingualität schützt auch nicht vor Demenz im Alter. Einige Studien zeigten zwar, dass Demenz bei zweisprachigen im Vergleich zu einsprachigen Menschen rund fünf Jahre später auftrete, so Clahsen. Doch er warnt vor allzu großen Hoffnungen. »Es gibt auch Untersuchungen, die keine Unterschiede bei älteren Menschen festgestellt haben. Außerdem kann Bilingualität die Krankheit nicht verhindern.« Vielmehr ist der Psycholinguist davon überzeugt, dass es vom persönlichen Lebensstil abhängt, wie lange das Gehirn jung bleibt. Mehrsprachigkeit fördere schließlich auch das Interesse an anderen Kulturen und bringe weltoffene Menschen hervor. Auch die UNESCO hatte beim Ausrufen des Welttags der Muttersprache die Stärkung von Verständnis und Zusammenhalt unterschiedlicher Kulturen im Sinn. Darin sieht Clahsen die größten Vorteile der Mehrsprachigkeit. »Sprachen sind eine Bereicherung des Alltags und des Lebens, ganz gleich, wann sie gelernt werden.« Mehrsprachigkeit verändert seiner Ansicht nach vor allem das Erleben beim Reisen und beim Lesen fremdsprachiger Texte. Der Sprachwissenschaftler bedauert, dass in unserer Gesellschaft oft nur Prestigesprachen wie Englisch, Spanisch oder Französisch im Vordergrund stehen. Dabei sei es gerade in Berlin sinnvoll, Türkisch-, Arabisch- oder Russisch-Unterricht anzubieten, sagt er. »Das würde auch das Verständnis der Schüler untereinander stärken.«

 

Phänomen »Diglossie«

 

An seinem Potsdamer Institut untersucht Clahsen zusammen mit einem Team von rund 20 Wissenschaftlern, wie das Gehirn mehrere Sprachen gleichzeitig verarbeitet. Ziel dabei ist es, die Vielfältigkeit von Mehrsprachigkeit mithilfe experimenteller und neurowissenschaftlicher Methoden genauer unter die Lupe zu nehmen. Interessant ist Clahsen zufolge etwa das Phänomen der Diglossie, welche oft in afrikanischen Ländern vorkommt. Im häuslichen Umfeld benutzten die Menschen dann ihre Ursprungssprache, im offiziellen Bereich wie bei Behörden oder Ämtern Englisch oder Französisch. »Dann werden die verschiedenen Lebenswelten auch sprachlich strikt voneinander getrennt. Meist kennen diese Menschen jene Wörter, die sie nur in einem der Umfelder gebrauchen, in der anderen Sprache gar nicht.«

 

In den kommenden Jahren will der Experte seine Erkenntnisse stärker in die Praxis einbringen, etwa um Erzieher und Sprachtherapeuten bei der Arbeit mit Blick auf den Spracherwerb von Einwandererkindern zu unterstützen. »Oft werden Probleme beim Spracherwerb falsch eingeschätzt und die Kinder landen auf Sprachbehindertenschulen.« Clahsen will Erziehern daher eindeutige Kriterien an die Hand geben, mit denen sie leicht feststellen können, ob es sich um eine Sprachbehinderung handelt oder ob die Betroffenen nur verzögert Deutsch lernen. Das gelinge etwa durch das Analysieren kleiner grammatischer Indikatoren. Darüber hinaus untersucht er derzeit, wie gut sich Apps zum Sprachenlernen eignen. Zum Auffrischen oder für ein paar sprachliche Alltagsbrocken scheinen die mobilen Anwendungen gut zu funktionieren. Ein tiefes Verständnis für die Grammatik können sie bis jetzt aber noch nicht vermitteln. /

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