Einer für alle, alle für einen |
21.02.2018 10:36 Uhr |
Von Jennifer Evans / Neben der Gesetzlichen und Privaten Krankenversicherung gibt es noch ein drittes Modell im Gesundheitswesen: die Solidargemeinschaften. Diese Vereine sind oftmals transparenter und unbürokratischer, sie kosten weniger, bieten häufig mehr Leistung und setzen auf Eigenverantwortung. Unklar ist jedoch ihre Rechtslage.
Die Mitglieder von Solidargemeinschaften entscheiden selbst darüber, für welchen Behandlungsweg sie im Krankheitsfall ihr Geld ausgeben wollen, unabhängig von dem gesetzlich festgelegten Leistungskatalog der Kassen. Dazu besitzt jedes Mitglied sein persönliches Gesundheitskonto, auf dem zwischen 50 und 60 Prozent seiner eingezahlten Beiträge landen. Über diese Summe kann jeder autonom verfügen. Wem etwa Zahnersatz oder alternative Medizin wichtig ist, der nutzt sein Geld dafür. Therapiefreiheit sowie die freie Arztwahl sind ein zentrales Gut dieser Organisationsform.
In Gesundheitsvereinen zählt vor allem Solidarität: Die Mitglieder stehen im Krankheitsfall füreinander ein.
Foto: imago/INSADCO
Der Rest des Beitrags fließt zum einen in den Solidarfonds der regionalen Gemeinschaften – das sind die oft dezentralen und subsidiären Verbünde, in denen viele dieser Gesundheitsvereine organisiert sind. Zum anderen geht das Geld an den Fonds der überregionalen Verbände oder bundesweiten Netzwerke. Der Vorteil: bei einem finanziellen Engpass kann die lokale Gruppe den überregionalen Fonds anzapfen. Einige Solidargemeinschaften sind zudem gegen hohe Risiken abgesichert.
Solidarischer Ansatz
Dieser solidarische Ansatz ist nicht neu: Schon vor rund 100 Jahren gab es berufsspezifische Vereine dieser Art etwa unter Polizisten und Pfarrern, die bis heute existieren. Die sogenannten berufsständischen Unterstützungskassen sicherten sich schon damals gegenseitig jene Krankheitskosten zu, für die ihr Arbeitgeber nicht aufkam. Offene Vereine wie Solidago, Artabana oder Samarita entstanden ab Ende der 1990er Jahre. Allen gemein ist, dass ihre Unterstützung weit über das Finanzielle hinausgeht. Erkrankt ein Mitglied, helfen ihm die anderen beispielsweise im Haushalt oder leihen ihm Hilfsmittel aus. Vertrauen und Menschlichkeit sind die Grundpfeiler dieser Bewegung, der hierzulande mittlerweile mehr als 20 000 Menschen angehören.
Die Vereine verstehen sich als Gegenpol zur sozialen Kälte und Vereinzelung, die ihrer Ansicht nach im deutschen Gesundheitssystem herrscht. »Es leidet unter zunehmender Anonymität, Bürokratisierung und Ökonomisierung mit der damit verbundenen Einschränkung der Therapiefreiheit, um Kosten zu sparen«, bemängelte Samarita-Chef Urban Vogel gegenüber der PZ. In den Gemeinschaften stünden hingegen die Gesundheit und der Solidargedanke im Mittelpunkt. »Beiträge werden bei der Samarita nach der finanziellen Leistungsfähigkeit und nicht nach Risiko erhoben. Wir haben keine Gewinnerzielungsabsicht.« Vielmehr wolle man zeigen, dass eine Gesundheitsversorgung fern von Einheitsmedizin und Gewinnmaximierung möglich – wenn nicht sogar besser – ist.
Die Beiträge bemessen die Vereine anhand unterschiedlicher Kriterien. So zahlt ein Mitglied bei Solidago aktuell 10 Prozent seines zu versteuernden Einkommens, dazu kommen eine Verwaltungspauschale von monatlich 20 Euro sowie die einmalige Aufnahmegebühr von 50 Euro. Bei Samarita richtet sich der Beitrag nach Einkommen und Anzahl der mitversicherten Familienmitglieder. Ein Paar mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 3000 Euro zahlt monatlich 525 Euro. Und die Mitglieder lokaler Artabana-Gruppen können die Höhe ihrer Jahresbeiträge sogar in Abstimmung mit der Gemeinschaft selbst festlegen. Ihr Einlageversprechen müssen sie dann allerdings schriftlich dem Kassenwart vorlegen. Trotz aller Freiheiten: 10 Euro Verwaltungszuschuss und 30 Euro Startbeitrag sind auch bei Artabana Pflicht. Durch ehrenamtliches Engagement bleiben die Verwaltungskosten bei allen Solidargemeinschaften überschaubar. Einmal aufgenommen, wirft der Verein ein Mitglied selbst im Falle eines Beitragsrückstands, hoher Krankheitskosten oder mangelnden Engagements nicht wieder raus.
Die Mitglieder der Vereine entscheiden selbst, für welchen Behandlungsweg sie ihr Geld ausgeben.
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Benötigt nun ein Mitglied für eine teure Behandlung oder Operation Geld aus dem Fonds, läuft es im Allgemeinen so ab, dass Vorstand oder Treuhänder zu Beratungen zusammenkommen und dann entscheiden. Sollte es dabei zu Differenzen in puncto Kostenübernahme kommen, wird ein Schiedsverfahren im Sinne einer Mediation eingeleitet oder es greift in letzter Instanz ein Schiedsgericht ein.
Bislang ist Vogel zufolge aber bei den Einrichtungen, die dem Dachverband von Solidargemeinschaften im Gesundheitswesen (BASSG) angehören, noch nie ein Schlichtungsverfahren in Anspruch genommen worden. In der Regel würden Kostenzusagen schnell erteilt, manchmal innerhalb weniger Stunden oder sie würden sogar direkt der Klinik übermittelt. Auch Willkür gebe es bei den Entscheidungen von Samarita nicht. »Wir handeln nach unserer Zuwendungsordnung und es gilt das Gleichbehandlungsgebot. Letzteres wird durch entsprechende Dokumentation gewährleistet«, so Vogel. Ziel sei es, eine bedarfsgerechte und umfassende Krankenversorgung zu realisieren.
Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) glaubt hingegen nicht, dass Solidargemeinschaften mit derselben Leistungsstärke aufwarten können wie die Kassen. »Der altruistische Grundgedanke von Artabana und anderen Gruppen ist theoretisch bestechend, in der Praxis stößt ein solcher Ansatz aber relativ schnell an seine Grenzen«, sagte GKV-Sprecherin Ann Marini auf Anfrage der PZ. In kleineren Gemeinschaften könne das Vertrauensprinzip funktionieren, in größeren Gruppen erfahrungsgemäß nicht. Demnach könnten Gemeinschaften, die auf dem individuellen Kooperationsgedanken fußten, keine echte Alternative zur GKV sein, betonte Marini. »Aber unter Umständen sind sie eine ergänzende Gemeinschaft, die Erkrankte im privaten Umfeld mit Empathie auffängt und umsorgt.«
Rechtssituation unklar
Noch nicht abschließend geklärt ist die Rechtssituation der Solidargemeinschaften. Laut Sozialgesetzbuch sind Bundesbürger von der seit 2007 geltenden Versicherungspflicht nur dann ausgenommen, wenn sie einen »anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall« haben. An der Interpretation dieses Satzes scheiden sich die Geister. Vereine, die dem Dachverband von Solidargemeinschaften im Gesundheitswesen (BASSG) angehören, sehen die gesetzlichen Anforderungen durch einen Passus in ihrer Satzung gewährleistet: »Die Mitglieder sichern sich gegenseitig rechtlich verbindlich eine umfassende, flexible Krankenversorgung zu, die in Quantität und Qualität mindestens dem Niveau der Gesetzlichen Krankenversicherung entspricht.« Zusätzlich hat jedes Mitglied Vogel zufolge Anspruch auf Erstattung aller notwendigen Kosten, die den Betrag von 5000 Euro pro Jahr übersteigen. Das ist über einen gesonderten Versicherungsvertrag geregelt. Andere Gesundheitsvereine haben den relevanten Rechtsanspruch nicht so deutlich formuliert, Artabana schließt ihn sogar aus.
Auch die Gerichte klärten die Sachlage bislang nicht abschließend. So verlor eine Klägerin, als sie 2011 vor dem Bayerischen Landessozialgericht gegen ihre Kasse vorging, die sich weigerte, sie zur Samarita wechseln zu lassen. Die Richter sahen den Rechtsanspruch auf Leistung im Krankheitsfall zu dem Zeitpunkt nicht gegeben, bemängelten außerdem den unzureichenden Datenschutz der Organisationsform und hatten Zweifel an der Unparteilichkeit der Schiedsstelle. Auch das Bundessozialgericht (BSG) verwarf schließlich trotz nachträglicher Ergänzung der oben genannten Passage durch Samarita die darauf folgende Revision im April 2017 aufgrund eines Formfehlers. Wieso sich das BSG damit einer Sachentscheidung entzogen habe, sei nicht nachvollziehbar, so der zuständige Rechtsanwalt und ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD).
Von der neuen Regierung fordert Vogel eine Ergänzung im Sozialgesetzbuch, die rechtsgültig und präzise die Kriterien festlegt, wann eine Solidargemeinschaft nun als »anderweitige Absicherung im Krankheitsfall« gilt. Allerdings wurde ein solcher Kriterienkatalog bereits 2009 vom GKV-Spitzenverband erstellt, dem auch das Bundesgesundheitsministerium bereits zugestimmt hatte. Lediglich der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) akzeptierte ihn nicht, weshalb er bis heute nicht veröffentlicht wurde. Der PKV war der Überzeugung, dass Solidargemeinschaften nicht dauerhaft entsprechende Leistungen rechtssicher garantieren könnten.
Bedenken der Regierung
Aufgrund der Rechtsprechung der vergangenen Jahre stellten sich dann auch bei der Bundesregierung »erhebliche Bedenken« ein, ob eine »anderweitige Absicherung« bei den Gesundheitsvereinen tatsächlich gegeben ist. Das geht aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen von 2011 hervor. Zudem weigerten sich zuletzt einige Finanzämter, die gezahlten Beiträge als Vorsorgeaufwand anzuerkennen. Nach Angaben des BASSG laufen jedoch derzeit weitere finanzrechtliche und sozialrechtliche Verfahren, die endlich Klarheit schaffen sollen. Um eine rechtssichere Lösung zu schaffen, empfahl die Regierung den Solidargemeinschaften damals, ihre Rechtsform zu ändern. Das wollen diese aber nicht. Würden sie nämlich künftig etwa als sogenannte kleine Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gelten, könnten sie laut BASSG unter anderem ihre Beiträge nicht mehr nach sozialen Gesichtspunkten gestalten. Das steht ihrem Solidargedanken entgegen. Daher bewegen sich die Vereine nun vorerst weiter in einer rechtlichen Grauzone. /