Breites Spektrum, schmale Evidenz |
21.02.2017 12:05 Uhr |
Von Annette Mende / Aufgrund ihres breiten Wirkspektrums kommen Cannabinoide zur Behandlung vieler Erkrankungen infrage. In den meisten Indikationen ist die Evidenz allerdings noch sehr mangelhaft.
Der medizinische Einsatz von Cannabis auf Rezept ist beschlossene Sache und steht unmittelbar bevor (lesen Sie dazu Seite 28). Ärzte dürfen künftig Cannabis oder Cannabis-Extrakt zulasten der Krankenkasse verordnen, wenn eine »nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht«. So steht es im Gesetz.
Diese Formulierung ist sehr vage, aber vor dem Hintergrund der vorhandenen Evidenz durchaus geboten. Diese wurde in diversen Übersichtsarbeiten der vergangenen Jahre zusammengetragen, die allesamt zu dem Schluss kamen, dass nur in wenigen Indikationen, zum Beispiel bei chronischen Schmerzzuständen, Übelkeit und Erbrechen nach Chemotherapie sowie schmerzhaften Spastizitäten bei Multipler Sklerose (MS), tatsächlich handfeste Belege für eine Wirksamkeit von Cannabis existieren. Ein neuer, 400 Seiten starker Report der US-amerikanischen National Academies of Sciences, Engineering and Medicine bestätigt das jetzt (DOI: 10.17226/24625).
Unterschiedlich gute Belege
Chronische Schmerzen wie beim Querschnittssyndrom sind eine der wenigen Indikationen mit guter Evidenz für Cannabis.
Foto: iStock/FredFroese
Die Autoren unterteilen die Evidenzlage zu den verschiedenen Indikationen in fünf Kategorien: schlüssig (conclusive), beträchtlich (substantial), mäßig (moderate), begrenzt (limited) und mangelhaft oder nicht vorhanden (no or insufficient). Um als schlüssig durchzugehen, muss ein Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Cannabis oder Cannabinoiden und dem jeweiligen Endpunkt in mehreren randomisierten und kontrollierten, qualitativ hochwertigen Studien eindeutig belegt worden sein. Es darf keine widersprüchlichen Ergebnisse aus glaubwürdigen Untersuchungen geben. Zufall, Bias und andere verzerrende Faktoren können als Ursache für den Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Dieselben Anforderungen gelten im Prinzip für die Kategorie »beträchtliche Evidenz«, wobei hier geringe Zweifel an einer möglichen Verzerrung nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen sind.
Die einzigen drei Indikationen, die diese hohen Ansprüche dem Report zufolge erfüllen, sind chronischer Schmerz bei Erwachsenen (Cannabis), Antiemese während Chemotherapie (orale Cannabinoide) und Patienten-berichtete Spastizität bei MS (orale Cannabinoide). Als mäßig wird die Evidenz für den Einsatz von Cannabinoiden, insbesondere der 1:1-Mischung aus Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) Nabiximols, bei Schlafstörungen infolge des obstruktiven Schlafapnoe-Syndroms, Fibromyalgie, chronischem Schmerz oder MS bewertet. Mäßige Evidenz bedeutet dabei, dass es für die Wirksamkeit Belege aus guten bis brauchbaren Studien gibt und keine oder nur wenige Ergebnisse, die das Gegenteil zeigen.
Als begrenzt definiert der Report das Evidenzlevel, wenn schwache Belege für eine Wirkung vorhanden sind, die aus brauchbaren Studien stammen, oder wenn bei widersprüchlichen Ergebnissen eine positive Tendenz erkennbar ist. Aus den verfügbaren Daten lässt sich eine Schlussfolgerung ziehen, die aber mit einer signifikanten Unsicherheit behaftet ist. Begrenzte Evidenz gibt es demnach für eine Wirksamkeit zur Appetitsteigerung und gegen Gewichtsverlust von HIV/Aids-Patienten (Cannabis und orale Cannabinoide), Arzt- gemessene Spastizität bei MS (orale Cannabinoide), Tourette-Syndrom (THC-Kapseln), Angststörungen (CBD) und posttraumatische Belastungsstörung (Nabilon, also synthetisches THC). Zudem gebe es begrenzte Evidenz dafür, dass der Einsatz von Cannabinoiden sich nach Hirntraumata oder intrakraniellen Blutungen positiv hinsichtlich der Mortalität und dem Grad der Behinderung auswirken könnte.
Keine oder mangelhafte Belege sehen die Autoren dagegen für eine Wirksamkeit von Cannabinoiden bei Krebs (auch Gliomen), Anorexie und Kachexie (auch krebsbedingter), Epilepsie, Spastizität aufgrund von Rückenmarkverletzungen, amyotropher Lateralsklerose, motorischen Symptomen aufgrund von Parkinson oder Levodopa, zum Erreichen von Abstinenz bei Suchterkrankungen. Auch für den Einsatz des teilsynthetischen THC Dronabinol bei Reizdarm-Syndrom, von Nabilon oder Dronabinol bei Dystonie, von Cannabidiol bei Schizophrenie oder von oralen Cannabinoiden bei der Hirnkrankheit Chorea Huntington gebe es keine oder nur mangelhafte Evidenz.
Der Report macht auch Negativempfehlungen, deren Aussagekraft allerdings lediglich als begrenzt bewertet wird. Demnach sind Cannabinoide ineffektiv bei Demenz, zur Senkung des Augeninnendrucks bei Glaukom und gegen Depressivität bei chronischen Schmerz- oder MS-Patienten (Nabiximols, Dronabinol, Nabilon). Weitere Kapitel beschäftigen sich mit Cannabis-assoziierten Risiken, wobei hier nicht der Einsatz als Arzneimittel, sondern der Gebrauch als Droge im Vordergrund steht. Für die therapeutische Anwendung relevant ist aber zum Beispiel die schlüssige Evidenz dafür, dass Cannabis-Gebrauch dosisabhängig das Risiko für die Entwicklung von Schizophrenie oder anderen Psychosen erhöht. Das unterstreicht, dass Cannabis als Arzneimittel stets nach dem Prinzip »start low, go slow« dosiert werden sollte.
Nicht bei akutem Schmerz
Diese Empfehlung machen auch Professor Dr. Rudolf Likar, Dr. Markus Köstenberger und Dr. Stefan Neuwersch in »Pharmakon«, der Zeitschrift für Mitglieder der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG). Sie beschäftigen sich vor allem mit dem Einsatz in der Therapie von Patienten mit chronischen Schmerzen – für den es ja auch laut US-Report eine schlüssige Evidenz gibt. Bei akutem Schmerz sollte Cannabis dagegen nicht angewendet werden, betonen die Autoren.
Sie bezeichnen Cannabinoide als interessante Möglichkeit der Add-on-Therapie bei chronischen Schmerzpatienten, wenn mit anderen Analgetika keine ausreichende Linderung zu erzielen ist. Es sei unbestritten, dass Cannabis die affektive Schmerzkomponente, also die individuelle Schmerzverarbeitung, positiv beeinflusst. Möglicherweise erklärt das auch, warum etwa bei MS-bedingter Spastizität die Patienten ihre Besserung unter Cannabis-Therapie meist höher einschätzen, als es objektiv messbar ist. /
Cannabis ist der Themenschwerpunkt der aktuellen Ausgabe von »Pharmakon«, der Zeitschrift für Mitglieder der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG). Sie enthält neben dem hier kurz vorgestellten Artikel zum klinischen Einsatz von Cannabinoiden unter anderem Beiträge zu den verschiedenen Cannabis-Sorten, zu Cannabidiol und zu den regulatorischen Rahmenbedingungen. »Pharmakon« erscheint sechsmal jährlich. Jede Ausgabe hat einen inhaltlichen Schwerpunkt, der in mehreren Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet wird. Ein kostenloses Abonnement ist in der DPhG-Mitgliedschaft inbegriffen. Die Zeitschrift ist auch für Nicht-Abonnenten als Einzelbezug für 28,73 Euro erhältlich. Weitere Informationen finden Interessierte auf www.pharmakon.info.