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Studie

Zuzahlungen als Gesundheitsrisiko

23.02.2010  16:04 Uhr

Von Uta Grossmann, Berlin / Zuzahlungen gefährden die Therapietreue und damit die Gesundheit von Patienten und verhelfen nicht zu einem vernünftigen Umgang mit Medikamenten. Dies sind Ergebnisse einer Studie in Zusammenarbeit mit der Versandapotheke Sanicare.

Die Zuzahlungen zu Medikamenten summierten sich nach Schätzungen der BKK 2006 auf 2,2 Milliarden Euro. 2008 leisteten die Versicherten nach Zahlen der Gamsi (GKV-Arzneimittel-Schnellinformation des Spitzenverbands der Krankenkassen) Zuzahlungen von 1,7 Milliarden Euro. Ein ordentlicher Batzen Geld, den Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus eigener Tasche zahlen müssen.

Seit 2004 zahlen GKV-Versicherte zehn Prozent des Verkaufspreises eines rezeptpflichtigen Arzneimittels dazu, jedoch mindestens fünf und höchstens zehn Euro. Die Zuzahlung darf nicht mehr betragen, als das Medikament kostet. Für verordnete Hilfsmittel gelten die gleichen Zuzahlungsregeln wie für rezeptpflichtige Arzneimittel. Damit die Kosten für kranke Versicherte nicht ausufern, gibt es eine Belastungsgrenze. Sie liegt bei zwei Prozent, für schwerwiegend chronisch Kranke bei einem Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens.

 

Das Instrument der Zuzahlungen soll zum einen den Krankenkassen Geld sparen, zum anderen eine steuernde Wirkung entfalten: Wer einen Eigenanteil am Arzneimittelpreis übernehmen muss, wird sich genauer überlegen, ob er das Medikament tatsächlich braucht, lautet die Überlegung. Allerdings gebe es in Deutschland keine empirische Studie zu den tatsächlichen Wirkungen von Zuzahlungen, bemängelte der Internist Dr. Jens Holst. Er ist selbstständiger Berater und will mit anderen Wissenschaftlern die Forschungslücke schließen. Er und seine Kollegen stellten vorige Woche in Berlin erste Ergebnisse einer Studie vor, die das Bremer Institut für Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung (BIAG) in Zusammenarbeit mit der Versandapotheke Sanicare initiiert hat.

 

Seit November 2009 füllten 1200 Sanicare-Kunden einen Fragebogen zu Therapietreue und Zuzahlungen aus. Im Gegenzug wird ihnen die Hälfte der Medikamenten-Zuzahlungen erlassen. Nach einigen Monaten werden sie unter den Bedingungen einer verringerten Zuzahlung erneut zu ihrer Therapietreue befragt.

 

Die Studienmacher streben an, insgesamt 6000 Teilnehmer für die Studie zu gewinnen. Die Wissenschaftler rechnen damit, noch im Laufe dieses Jahres endgültige Ergebnisse vorlegen zu können.

 

Ziel der Studie ist es herauszufinden, ob Zuzahlungen zu Arzneimitteln den Krankheitsverlauf der Patienten negativ beeinflussen und durch sinkende Therapietreue die Gesundheitskosten nach oben treiben. Eine solche schädliche Wirkung haben Studien aus den USA und Italien nachgewiesen, so das BIAG. Demnach reduzieren Patienten eigenmächtig die Dosis, um länger mit einer Medikamentenpackung auszukommen, oder brechen die Therapie ganz ab, um die Zuzahlung zu umgehen.

 

Diese mangelhafte Therapietreue zieht Gesundheitsrisiken nach sich. Sie führt zur Verschleppung und Chronifizierung von Krankheiten oder gar zu einem vorzeitigem Tod. In den Niederlanden sind nach Aussage des BIAG Zuzahlungen wegen solcher unerwünschten Effekte Ende der 90er-Jahre abgeschafft worden.

 

Glaeske: Chance für Apotheker

 

Enorm schädlich wirkt es sich auf die Therapietreue aus, wenn Ärzte ihre Patienten unzureichend oder gar nicht über Wirkung und Funktion der Medikamente informieren, sagte Dr. Bernard Braun. Er ist einer der Studienleiter sowie Geschäftsführer des BIAG und arbeitet am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, wo der Pharmazeut Professor Dr. Gerd Glaeske Co-Leiter der Abteilung für Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung ist.

 

Glaeske wies darauf hin, dass die ärztliche Information in einer Weise kommuniziert werden muss, die dem Patienten das Verstehen ermöglicht. Hier sieht er Defizite und eine »große Chance« für die Apotheker, sie auszugleichen. Apotheker sollten nachfragen, ob der Patient weiß, wie er ein Medikament einnehmen muss und wie es wirkt. Das passiere noch zu wenig, kritisierte Glaeske. In 40 Prozent der Apotheken geschehe die Abgabe von Medikamenten »eher kommunikationslos«, behaup­tete er.

 

Ein bedeutsamer Grund für die Nichteinnahme von Medikamenten ist jedoch das schlichte Vergessen, wie die ersten Studienergebnisse zeigen. Acht Prozent der Befragten hatten zweimal oder öfter, weitere 23 Prozent einmal in zwei Wochen vergessen, das Medikament einzunehmen. Einfluss auf die Therapietreue nimmt dabei auch die Erfahrung, die Patienten bisher mit Medikamenten gemacht haben. Wer eher skeptisch ist, ob ihm die Arznei hilft, vergisst die Einnahme deutlich häufiger. Auch Ängste vor Nebenwirkungen und ganz besonders vor Abhängigkeit spielen eine wichtige Rolle.

 

Der Gesundheitsökonom Glaeske bezweifelt grundsätzlich die steuernde Wirkung von Zuzahlungen. Der Patient habe kaum Entscheidungsspielraum. Wenn der Arzt ihm ein verschreibungspflichtiges Medikament verordne, habe er keinen Einfluss darauf, ob er eine Zuzahlung leiste oder nicht, weil der Arzt die Entscheidung über das verordnete Medikament treffe. Allerdings könne der Apotheker auf ein zuzahlungsbefreites Arzneimittel hinweisen – sofern kein Rabattvertrag besteht.

 

Glaeske nannte Zuzahlungen unsozial, weil eine kleine Gruppe von Patienten den größten Teil der Zuzahlungen leisten müsse. Das seien vor allem chronisch Kranke, die meist auch zum ärmeren Teil der Bevölkerung gehören. Die Politiker ermahnte er, weniger auf neue Einnahmemöglichkeiten zu schielen und stattdessen Ausgaben zu begrenzen und Anreize für eine zielgerichtete Versorgung zu setzen.

 

Vorschläge von Pro Generika

 

Während der Gesundheitsökonom Glaeske Zuzahlungen eine Steuerungswirkung rundheraus abspricht und sie für Gesundheitsgefahren durch mangelnde Therapietreue verantwortlich macht, will der Branchenverband Pro Generika Zuzahlungen beibehalten. Sie sollen jedoch nicht mehr wie bisher in erster Linie als Finanzierungsinstrument dienen, sondern »konsequent zu einem Steuerungsinstrument umfunktioniert werden, das den Patienten den Anreiz gibt, auf die Verordnung und Abgabe preisgünstiger Arzneimittel hinzuwirken«, schreibt der Verband in seinem Vorschlag zur Neuordnung des generikafähigen Arzneimittelmarktes der Gesetzlichen Krankenversicherung.

 

Deshalb fordert Pro Generika, die Mindestzuzahlung von fünf Euro zu streichen. Stattdessen sollte durchgängig eine Zuzahlung von zehn Prozent des Apothekenverkaufspreises geleistet werden. Die Kappungsgrenze von zehn Euro soll bleiben.

Allerdings würde diese Änderung der Zuzahlungsregelung die GKV mit geschätzten 120 Millionen Euro belasten. Der Verband kritisiert, dass das Instrument Zuzahlungen bisher gleich zwei Zwecken dient, nämlich der Steuerung und der Finanzierung. Mit jedem Instrument dürfe aber nur ein Ziel verfolgt werden, fordert Pro Generika. Geschäftsführer Peter Schmidt kritisierte im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung das komplizierte System der Zuzahlungsregelung, das kein Mensch verstehe und die Patienten schon gar nicht.

 

Er forderte die Politiker auf, sich klar zu werden, was sie mit Zuzahlungen erreichen wollen, und sich auf eine einheitliche Regelung zu verständigen. Eine generelle Zuzahlung des Patienten, wie sie auch im Pro-Generika-Modell vorgeschlagen wird, sei zwar ein Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip, sagte Schmidt, doch in der gegenwärtigen Haushaltssituation des Bundes müsse man davon ausgehen, dass das Instrument nicht gänzlich abgeschafft werde.

 

Mit seinem Strukturmodell will der Verband Einfluss auf die von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) angekündigte neue Arzneimittelgesetzgebung nehmen. Die Hauptforderung: Die Rabattverträge sollen abgeschafft werden. Das Echo aus den Fraktionen der Regierungsparteien ist sehr gemischt, es gibt Befürworter wie Gegner dieses Wettbewerbsinstruments. Der Minister zählt offenbar zu den Befürwortern. Pro-Generika-Geschäftsführer Schmidt warnt vor einer Abwanderung der Generikaindustrie nach Südostasien und China, sollten die Rabattverträge Bestand haben. Als neues Steuerungsinstrument schlägt der Verband eine Generikaquote von mindestens 85 Prozent der Verordnungen im generikafähigen Markt vor. Festbeträge sollen beibehalten werden. Pro Generika kritisiert jedoch, der GKV-Spitzenverband habe sich »selbst einen Freibrief ausgestellt« und die Zuzahlungsfreistellungsgrenzen »nach Belieben« bis zu 50 Prozent unter Festbetrag festgesetzt. Deshalb müsse die Freistellungsregelung gesetzlich präzisiert werden – auf eine Höchstgrenze von 30 Prozent unter Festbetrag, heißt es im Strukturmodell des Branchenverbandes.

 

Pro Generika macht eine Gesamtrechnung auf, nach der sein Strukturmodell die GKV dank der Generikaquote von 85 Prozent um 393 Millionen Euro entlasten würde. Wegen der wegfallenden Rabattverträge und der modifizierten Zuzahlungsregelung kämen zusätzliche Kosten von 870 Millionen Euro auf die Kassen zu, unterm Strich also eine Mehrbelastung von 477 Millionen Euro.

 

Kritik vom AOK-Bundesverband

 

Allerdings, rechnet der Verband nicht ganz uneigennützig vor, wäre bei einer Erhöhung der Generikaquote auf 90 Prozent sogar eine leichte Entlastung der GKV um 30 Millionen Euro zu erwarten; das Modell wäre dann kostenneutral. Einsparungen durch eine bessere Therapietreue und wesentlich geringere Transaktionskosten durch den Wegfall der Rabattverträge sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.

 

Erwartungsgemäß reagierte der Bundesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), der von den Rabattverträgen profitiert, mit harscher Kritik auf die Vorschläge von Pro Generika. Der AOK-Vorstandsvorsitzende Dr. Herbert Reichelt bezeichnete sie in einer Pressemitteilung als »reichlich durchsichtige Placebos, die Gewinne sichern sollen«. /

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