Pharmazeutische Zeitung online
Selbstmedikation

Zur Situation vor vierzig Jahren*

22.02.2010  17:52 Uhr

Von Gerhard Helmstaedter, Wien /  Der Begriff der »Selbstmedikation« ist im ersten Band des deutschen Dudens von 1973 noch nicht enthalten (1). Historisch betrachtet hängt der Ausdruck mit der Situation der Gesundheitsvorsorge in der nordamerikanischen Kolonialzeit zusammen, in der jeder Einzelne die Verantwortung trug, für seine Gesundheit und die seiner Familie selbst zu sorgen (2).

Es haben sich in den USA zwei Märkte entwickelt, der Rx-Bereich und der OTC-Markt, mit unterschiedlicher Entwicklung und öffentlicher Regulierung. In den Apotheken und Drugstores finden wir für pharmazeutische Güter das »Prescription-Center« mit dem Apotheker als Verteiler und in der Nähe einen Bereich mit den OTC-Arzneimitteln, oft nach Indikationen geordnet, wobei der Nutzen auf der Packung ersichtlich oder über Werbung bekannt ist.

PZ-Originalia

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Hier findet Selbstmedikation statt (3). Dabei handelt es sich um Markenprodukte, »Proprietary Medicines«, die sich aus den »Patent medicines« des 19. Jahrhunderts entwickelt haben (4).

Noch im 19. Jahrhundert gründeten sich Interessengruppen der Apotheker (APhA American Pharmaceutical Association 1852) und 1881 der pharmazeutischen Hersteller von Markenpräparaten, die Proprietary Association (heute CHPA Consumer Healthcare Products Association) (5). Auch der Herstellerverband in England (PAGB Proprietary Association of Great Britain), wo die Verhältnisse vergleichbar sind, ist früh (1919) in Erscheinung getreten (6). Der National Health Service war mit dem Konzept angetreten, sämtliche Krankheitsformen einzuschließen, was sich als unrealistisch herausstellte (7).

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich internationale Konzerne den europäischen Markt erschlossen. Das System mit direkter Ansprache des Publikums und freiem Zugang zu entsprechenden Markenpräparaten in Abgabestellen des angelsächsischen Prinzips (Drugstore) trifft in Deutschland auf das Prinzip einer vorwiegenden Verschreibung von rezeptpflichtigen wie nicht rezeptpflichtigen Arzneimitteln, ihrer Abgabe in der Apotheke und von freiverkäuflichen Arzneimitteln, diese auch außerhalb der Apotheke.

 

Auch in anderen kontinentalen Ländern herrschten eigene Abgabesysteme vor. Am 25. März 1957 war die EWG mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge durch Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden, und es zeichnete sich ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ab.

 

Um in diesem Feld zu einer zielgerichteten Fachpolitik unter der Devise der Selbstmedikation zu kommen. war ein Sprachrohr auf europäischer Ebene vonnöten. Es wurde in Paris ein Verband, die AESGP Association Européenne des Spécialités Grand Public, gegründet (8).

 

Emissäre besuchten die Bundesrepublik und fanden in dem Fachverband der Heilmittelindustrie (heute BAH, Bundesverband der Arzneimittelhersteller) einen interessierten Partner, der dann auch einen Beitritt vollzog. Unter der Devise einer »Selbstmedikation« ist es in der Bundesrepublik, unter dem Dach einer europäischen Fachpolitik der Arzneimittelindustrie gemeinsam mit Vertretern der Sozialwissenschaft, Ärzten, der Oberbehörde, mit teils zustimmender, teils kritischer Einstellung der Apothekerorgane, zu gesundheitspolitischen Überlegungen gekommen (9).

 

Als Geburtsstunde wird der Vortrag von Manfred Pflanz, Professor für Epidemiologie, Sozialhygiene und Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover, auf der Tagung des europäischen Arzneimittelverbandes (AESGP) in Brüssel am 30. Oktober 1967 angesehen (10). Pflanz hat bereits vor dem Vortrag in seinen Schriften den Begriff Selbstmedikation, den er von der amerikanischen Soziologie her kannte, allerdings ohne ideologischen Impetus, verwendet (11). Die Soziologie hatte sich zu einer hegemonialen Wissenschaft entwickelt, sämtliche gesellschaftliche Formen abdeckend, und damit auch zu dem Fach der Medizinsoziologie geführt (12). Pflanz hatte maßgeblich zu einer Programmschrift beigetragen (13).

Tabelle 1: OTC-Markt gesamt in Mio. EURO (Herstellerabgabepreis)

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Österreich 97 98 114 143 168 175 179 205 231
Belgien 272 260 287 380 416 433 470 546 601
Tschechien 66 105 127 175 208 242 257 282 348
Dänemark 105 99 99 116 164 177 185 213 144
Finnland 88 91 99 127 144 167 144 178 201
Frankreich 2358 2278 2197 2647 2876 2912 3217 3336 3443
Deutschland 3265 3168 3327 4004 3767 3722 3604 3454 3612
Griechenland 79 81 118 159 188 178 186 245 279
Ungarn 72 84 119 163 191 224 233 248 308
Irland 58 62 62 82 99 107 132 150 173
Italien 866 924 1030 1398 1593 1731 1782 2225 2654
Niederlande 226 217 176 212 214 219 265 275 300
Norwegen 47 49 58 68 73 79 92 117 137
Polen 436 491 481 562 662 804 882 1036 1312
Portugal 80 85 103 133 149 156 159 182 250
Russland 266 338 329 487 744 903 1309 1550 1828
Slowakei 29 29 40 55 61 71 87 124 159
Spanien 384 379 407 530 634 615 614 792 834
Schweden 146 139 143 168 213 224 212 244 265
Schweiz 221 228 243 290 309 314 320 351 412
UK 848 928 995 1414 1791 2018 2071 2274 2126

Zahlen basieren auf IMS Erhebungen und Schätzungen für Kanäle, die durch Datenerhebung nicht abgedeckt sind. Keine OTC-Audits verfügbar für Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Slowenien.

Quelle: IMS Health GmbH & Co. OHG Frankfurt

In dem Brüsseler (von einem Mitarbeiter Dr. Salzmann verlesenen) Vortrag definiert er Selbstmedikation als alle Handlungsweisen der Person, die auf die Erhaltung der Gesundheit oder im Krankheitsfalle auf deren Wiederherstellung gerichtet sind. An der »Eisberghypothese« sei nicht zu zweifeln, dass von allen Gesundheitsstörungen nur ein ganz kleiner Teil zur Kenntnis des Arztes gelangt. Es sei erforderlich, die Gesundheitserziehung des Laien intensiv zu betreiben und alles zu verhindern, was Selbstbehandlung zu einer Gefährdung des Kranken mache. Sachaufklärung durch Werbung sei notwendig und gebe damit auch der Öffentlichkeit die Möglichkeit zur Beurteilung (14).

 

Der Widerhall begann im Deutschen Ärzteblatt mit einer scharfen Replik (15) und hatte über Jahre seine Höhen und Tiefen, an der sich auch die jeweiligen Ministerien beteiligten, so im regierungsamtlichen Forschungsbericht über Selbstbehandlung und Selbstmedikation medizinischer Laien (16). Die Systematik der Selbstmedikation hat sich mit Prärogativen und Verhaltensanreizen entwickelt, auf die auch der Gesetzgeber mit Regelungen im AMG und HWG reagiert hat.

 

Die Fachpolitik im Verband (BAH) konnte sich von unergiebigen Bemühungen wie der Freiverkäuflichkeit und Werbefreiheit lösen. Sie hatte ein Thema, in dem sie ernsthafter Partner sein konnte, nachdem sie sich selbstverpflichtend zu lauteren Grundsätzen des Umgangs mit Arzneimitteln bekannt hatte (17). Dazu bestand aller Grund, wie die Anpassung an die nun gesetzlichen Erfordernisse des AMG und HWG zeigte.

 

Auf der Mitgliederversammlung des deutschen Verbandes in Stuttgart 1970 wurde ein Manifest angenommen, mit Leitlinien nach innen und außen (18).

 

Wichtige Punkte dieses gesundheitspolitischen Konzepts waren:

 

Es gibt ein Bedürfnis nach Arzneimitteln für Missbefindlichkeiten ohne Krankheitswert.

Dem Verbraucher sind Möglichkeiten zu seiner Professionalisierung zu geben.

Arzneimittelhersteller sind für die Bereitstellung frei erhältlicher Arzneimittel zuständig.

Diese nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel genügen den Kriterien des AMG.

Die Werbung hat eine gesundheitspolitische Funktion.

Arzt und Apotheker haben eine besondere Beratungsfunktion.

 

Diese von emanzipatorischer Rhetorik nicht unberührten Thesen wurde allgemein diskutiert und später auch in bereinigter Form von anderen Gruppierungen, wie dem Hartmannbund, dem Verband niedergelassener Ärzte, NAV, und der Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung (Marburg) gebilligt (19). In den Diskussionen kam auch der Gedanke auf, Selbstmedikation könne zu einer Dämpfung des Kostenwachstums in der Gesundheitsversorgung beitragen (20).

 

Im November 1971 hat der Altbundeskanzler Ludwig Ehrhard auf dem Weltkongress (WFPMM) in London zur Notwendigkeit und Rechtfertigung der Selbstme- dikation aus sozialer und wirtschaftlicher Sicht Stellung genommen und das Bewusstsein und den Willen zur Selbstverantwortung der kollektiven Fürsorge gegenübergestellt (21).

Tabelle 2: OTC-Anteil am gesamten Pharmamarkt

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Österreich 8,7% 8,6% 8,8% 8,6% 8,6% 8,6% 8,3% 8,0% 7,9%
Belgien 16,1% 14,9% 14,5% 14,6% 13,5% 13,6% 14,5% 14,6% 13,9%
Tschechien 13,2% 19,6% 18,7% 20,0% 19,1% 19,3% 19,4% 17,1% 17,1%
Dänemark 17,8% 15,7% 13,1% 12,2% 14,9% 14,8% 13,9% 13,3% 7,8%
Finnland 13,2% 12,5% 11,6% 11,7% 10,9% 11,8% 10,1% 10,6% 10,7%
Frankreich 20,8% 19,2% 16,8% 16,1% 14,9% 13,1% 13,9% 12,5% 12,0%
Deutschland 27,5% 25,2% 23,2% 21,5% 18,1% 16,5% 16,0% 13,3% 12,4%
Griechenland 8,3% 7,4% 8,1% 7,5% 6,7% 6,0% 5,5% 5,7% 5,5%
Ungarn 13,6% 13,6% 14,5% 14,7% 14,5% 14,4% 14,0% 13,7% 14,7%
Irland 14,9% 13,7% 11,0% 10,3% 9,8% 9,5% 10,4% 9,7% 9,5%
Italien 11,6% 11,3% 11,4% 12,3% 12,3% 12,9% 12,6% 14,1% 15,1%
Niederlande 11,9% 11,2% 7,8% 6,9% 6,5% 6,9% 8,0% 7,1% 7,2%
Norwegen 8,7% 8,3% 7,7% 7,8% 7,4% 7,4% 8,5% 9,5% 10,4%
Polen 25,4% 24,8% 23,3% 23,0% 25,3% 25,5% 25,8% 24,9% 24,9%
Portugal 7,0% 7,0% 7,5% 7,8% 7,3% 7,2% 7,0% 6,9% 8,7%
Russland 35,3% 36,4% 33,1% 36,3% 37,5% 38,4% 40,6% 41,6% 43,1%
Slowakei 11,8% 10,6% 12,9% 13,6% 13,5% 13,4% 13,5% 14,1% 13,9%
Spanien 9,1% 6,4% 5,9% 5,7% 5,7% 5,1% 5,0% 5,5% 5,0%
Schweden 10,3% 10,3% 9,2% 8,8% 10,0% 10,2% 9,2% 9,0% 9,0%
Schweiz 18,5% 17,4% 15,8% 15,0% 14,0% 13,8% 14,1% 13,9% 14,0%
UK 11,3% 11,6% 10,7% 12,7% 13,2% 15,3% 14,8% 14,3% 14,0%

Zahlen basieren auf IMS-Erhebungen und Schätzungen für Kanäle, die durch Datenerhebung nicht abgedeckt sind. Keine OTC-Audits verfügbar für Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Slowenien.

Quelle: IMS Health GmbH & Co. OHG Frankfurt

Vorstellungen wie die Stärkung der Rechte des Bürgers, verbunden mit Grundsatzerklärungen, waren dem Zeitgeist verpflichtet (22). Fasziniert von der Bedingung, aufgrund eines erkenntnisleitenden Inte-resses mittels eines praktischen Diskurses zu einer Zustimmung aller Betroffenen zu kommen, traf man sich an vielen Orten, vorzugsweise in Akademien in Bad Boll und Hofgeismar, beleuchtete das Thema von allen Seiten und publizierte in den Fachblättern. Hier waren auch Apotheker wie Schmitz, Glück und Büsch vertreten.

 

Schmitz hatte einen programmatischen Artikel über den Apotheker als Gesundheitserzieher gebracht und dort auch von Selbstmedikation gesprochen. Im Verlauf der Diskussionen hat er sich zum politischen Begriff »Selbstmedikation« geäußert und ihn als eine historische Bezeichnung in Anspruch genommen (23):

 

Selbstmedikation ist im Kern zu allen Zeiten vorhanden gewesen.

Arzt und Selbstmedikation schließen sich nicht aus.

Dem Apotheker kommt eine wichtige Schlüsselposition zu.

Es ist bei der Gesundheitsbildung auf ein Zusammenwirken von Administration, Gesundheitsberufen und Arzneiherstellern zu achten.

 

Impulsgebend war das 1972 von der FDA gestartete Verfahren, OTC Arzneimittel einer Regelung zuzuführen, bei der Expertengruppen unter Berücksichtigung des wissenschaftlichen Erfahrungsmaterials Richtlinien für Indikationsgruppen und deren Wirkstoffe festlegten (24): »Because self-medication is essential to the Nation’s health care system, it is imperative that over-the-counter (OTC) drugs available for human use be safe and effective and bear fully informative labeling.«

 

Die FDA hatte sich für ein retrospektives Verfahren mithilfe von 17 Expertenpanels für 17 Kategorien für ungefähr 1000 in diesen verwendeten Wirkstoffen entschieden, die aufgrund des bearbeiteten Materials als sicher, wahrscheinlich sicher oder nicht sicher eingestuft werden sollten. Sichere Arzneimittel erhielten eine weitere Marktzulassung. Sämtliches Material wurde veröffentlicht, zur Diskussion gestellt und nach weiterer Behandlung verabschiedet. Da Revisionen zugelassen sind, ist das Verfahren immer noch im Gange (25). Die Bundesregierung hat dann im Rahmen des AMG ein vergleichbares Verfahren, allerdings für sämtliche Arzneistoffe, eingeführt (26).

 

1980 konnte der FDA Commissioner Schmidt auf die Aktualität einer verantworteten Selbstmedikation weltweit hinweisen. Bedeutsam sei die wachsende Anerkennung der großen individuellen und sozialen Errungenschaften, die aus einer wirksamen persönlichen Anwendung von geeigneten Arzneimitteln erwachsen (27).

 

Zur gleichen Zeit haben englische Vertreter zur Selbstmedikation ein Resümee gegeben (28). Im Januar 1979 fand im Royal College of Physicians in London ein Symposium statt, dessen Chairman Lord Richardson erklärte: »There is general agreement that self-medication is not only practiced widely but here to stay«. Es wurden Empfehlungen formuliert:

 

Self-care is a potent change agent in educating both health personnel and the lay people about health care problems.

The individual seeking relief does require pertinent information about his disorders.

A community pharmacist attached to a primary care team makes a greater contribution than one practicing from his one premises.

 

Ein besonderes Thema war die Selbstmedikation älterer Menschen. Angelpunkte waren Mängel im Umgang mit Arzneimitteln und häufiger Vielgebrauch. Dieses Thema, »Problems of the Elderly and the Aged«, wurde von der UN auf der Generalversammlung 1980 aufgegriffen und in der Vorbereitungsphase von der WHO auf einem NGO-Forum in Wien diskutiert (29). Die AESGP hat in Athen 1982 das Thema mit einem Report von mir aufgegriffen (30). Unter den europäischen Ländern hatte insbesondere Schweden einen interessanten Versuch zur Professionalisierung des Laien gemacht, nicht zuletzt durch die Ausgabe des Patient-FASS, eines Arzneimittelverzeichnisses mit sachdienlichen Angaben (31). Die Schwedische Akademie der Pharmazeutischen Wissenschaften veranstaltete in Stockholm vom 9. bis 11. November 1983 ein internationales Symposium, dessen Verlautbarungen von Fryklöf und Winterling veröffentlicht wurden (32). Die WHO war im Rahmen der Erstellung einer Liste essenzieller Arzneimittel auch an Selbstmedikation, einschließlich autochthoner Formen, interessiert (33). Eine neue Richtung war der sogenannte Switch, die Überführung rezeptpflichtiger Substanzen, die zu einer Selbstmedikation geeignet sind, in den Status nicht rezeptpflichtiger Arzneimittel (34). Dieser Trend hatte in der EG Fuß gefasst und wird fortlaufend praktiziert, zuletzt für Pantoprazol (35).

 

1984 sind in einer Festschrift zum 30-jährigen Bestehen des Bundesfachverbandes der Arzneimittelhersteller (BAH) Rechenschaft und Bekundungen zur Selbstmedikation gegeben worden. Hirschmann (NAV) erinnert an das betretene Neuland, die Umsetzung in Regelungen des AMG und HWG. Die Selbstmedikation sei keine Alternative zur ärztlichen Behandlung und Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung. Sturzbecher (ABDA) zweifelte am goldenen Zeitalter des mündigen Bürgers. Er könne Grenzsituationen nicht erkennen und bedürfe einer Beratung durch Arzt und Apotheker. Überla (BGA) sieht die Sicherheit jeder Behandlung von zwei Faktoren abhängig, dem Informationsstand und dem Stand seiner Handlungsmöglichkeiten und spricht sich für ein »learning by doing« aus (36).

 

Cranz, heute langjähriger Generalsekretär der AESGP, hat 1985 eine umfangreiche Arbeit vorgelegt, die einen historischen Rückblick zur Theoriebildung der Selbstmedikation als System gibt (37). Der Präsident des Weltverbandes, Jamison (Roche International), formulierte für 2000 in Berlin: Berlin: »A philosophy of individual participation and empowerment is vital in responsible self-medication« (38).

 

Es kann heute feststellt werden, dass Selbstmedikation ein weithin anerkannter umgangssprachlicher Begriff ist, wobei die Handlungen des informierten Laien dem Ziele folgen, das man als »Gesundheitsförderung« bezeichnen kann (39). Das prinzipielle Anliegen einer fortschreitenden Wissensbildung im Umgang mit Selbstmedikation, auch angesichts von Ungleichheiten (40), muss weiter verfolgt werden.

 

Der deutsche Verband der Arzneimittelhersteller BAH verleiht seit 1980 einen Selbstmedikationspreis, den auch Apotheker angenommen haben, zuletzt 2000 Professor Dr. Marion Schaefer, Humboldt-Universität Berlin für ihre Verdienste um »Pharmaceutical Care und Consumer Health Care«, 2003 Thomas Preis für den Apothekerverband Nordrhein auf der Jahresversammlung 2009 und auf dem Apothekertag 2009 Hermann S. Keller, langjähriger Vorsitzender des Deutschen Apothekerverbandes. /

 

*) Vortrag auf dem »International Congress for the History of Pharmacy«, Wien, 16. bis 20. September 2009

Literatur

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Joint Annual Meeting of AESGP – the Association of the European Self-Medication Industry – and WSMI – the World Self-Medication Industry: Self-care – a vital element of health policy in the information age«, Berlin, Germany, 9-12 June 1999. www.aesgp.be/Berlin1999/proceedings1.html. Siehe auch AESGP Report (2009).

J. Siegrist (Hrsg.): Medizinische Soziologie, München 2005, S.277. »Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen«.

M. G. Marmot, M. J. Shipley: Do socioeconomic differences in mortality persist after retirement? 25 Year follow up of civil servants from the first Whitehall study. Brit.Med.J. 313 (1996), 1177-80. M. G. Marmot, R. G. Wilkinson. Eds. Social Determinants of Health, Oxford University Press 1999.

 

Anschrift des Verfassers:

Dr. Gerhard Helmstaedter

Erfurter Straße 4

50259 Pulheim

g.helmstaedter(at)t-online.de

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