Volkszählung in der Tiefsee |
23.02.2010 12:33 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek, Frankfurt am Main / Mehr Licht ins Dunkel der Tiefsee haben jetzt Meeresforscher im Rahmen des weltweiten Forschungsprojekts »Census of Marine Life« gebracht. Tausenden von Arten und Lebewesen waren sie auf der Spur, viele von ihnen hatte man bis dahin noch nie gesehen.
»Nachdem man alle Sterne gezählt hatte, kam man vor zehn Jahren auf die Idee, dass man jetzt mal die Fische zählen könnte. Das war der Anfang des Meeresforschungsprojekts Census of Marine Life«, sagte Professor Dr. Pedro Martínez Arbizu vergangene Woche im Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt am Main. Der Projektleiter von CeDAMar (Census of the Diversity of Abyssal Marine Life; Volkszählung in den Tiefseebecken), einem in das Forschungsprogramm eingebundenen Feldprojekt, traf sich mit Kollegen im Rahmen einer Auftaktveranstaltung zu dem von den Vereinten Nationen ausgerufenem »Jahr der Biodiversität 2010«. Thema war die »Biodiversität in den Meeren«.
Census of Marine Life endet in diesem Jahr. Zehn Jahre lang führten aufwendige Expeditionen zu den Polarmeeren und in die Tiefseebecken von Atlantik, Pazifik und Mittelmeer. Alles Leben in den Ozeanen der Welt sollte untersucht werden, von den Mikroorganismen bis zu den Walen, von der Wasseroberfläche bis zum Meeresboden, von Pol zu Pol. Dahinter steht das ehrgeizige Ziel, einen noch weitgehend unerforschten Lebensraum zu erschließen, denn viele Meeresbewohner sind auch heute noch unbekannt. Eine erste wissenschaftliche Bestandsaufnahme soll das Projekt liefern.
Die Weltmeere bedecken etwa 71 Prozent der Erdoberfläche, aber 95 Prozent der Ozeanbecken und Meere warten noch auf ihre Erforschung. Erst seit Kurzem erlauben es technische Fortschritte den Wissenschaftlern, in die Lebensräume so großer Tiefen, bei extremer Dunkelheit und unter dem dort herrschenden immensen Druck vorzudringen. Niemals zuvor hatte es eine umfassendere Untersuchung aller Meeresorganismen gegeben. Zunächst ging es um Basiswissen über das marine Leben. Welche Arten gab es früher, welche gibt es heute und wie sind sie verteilt? Was fressen sie, und von wem werden sie gefressen? Wie groß ist das Gebiet, das eine Art bewohnen kann? Mehr als 2000 Wissenschaftler vertieften sich in alte Aufzeichnungen, viele von ihnen sind in die Meere hinabgetaucht, dokumentierten, was sie dort vorfanden und haben daraus Szenarien für die Zukunft entwickelt. Mit Abschluss dieses zehnjährigen Projekts steht eine Fülle wichtiger Daten zur Verfügung, deren vollständige Auswertung noch Jahrzehnte dauern wird.
Weniger genetische Vielfalt
Die Bestände der Meeresbewohner nehmen durch Umweltbedingungen wie Klimawandel, globale Erwärmung, Rohstoffabbau oder Überfischung ab – allein in den letzten 50 Jahren sind 90 Prozent aller großen Fische aus den Weltmeeren verschwunden. Schon innerhalb des Untersuchungszeitraums von 10 Jahren beobachteten die Wissenschaftler gravierende Veränderungen in besonders sensiblen Gebieten, die sie wiederholt besuchten. Verschmutzte, verödete und leergefischte Gebiete haben einen Artenschwund zur Folge, der die genetische Vielfalt reduziert und damit auch die Fähigkeit der Meeresbewohner, sich an neue Umweltbedingungen und Belastungen anzupassen.
Die Tatsache, dass jedes der fünf Meeresbecken – der Pazifische, der Atlantische, der Südliche, der Indische und der Arktische Ozean – durch große Wasserströme miteinander verbunden sind, macht zudem deutlich, dass ökologische Störungen nicht auf ein Gebiet begrenzt bleiben. Der Untergang einer Art bringt zwangsläufig auch andere Arten in weit entfernten Regionen zum Verschwinden. Ökosysteme können so möglicherweise nicht mehr überleben, weil Artenvielfalt und genetische Diversität nicht mehr ausreichen. Schätzungen zufolge liegt die Zahl aller marinen Arten in den Weltmeeren zwischen einer Million und zehn Millionen. Viele von ihnen werden wahrscheinlich schon ausgestorben sein, bevor sie überhaupt entdeckt wurden.
Die Vielfalt in den Meeren geht immer weiter verloren. Was das für die Ökosysteme und letztlich auch für den Menschen, bedeutet, sollen die Census-Forschungen helfen zu klären. Erkenntnisse darüber, wie sich das Miteinander von den großen Fischen bis zu Mikroorganismen gegenseitig beeinflusst sind nötig, um die Ressource »Tiefsee« nachhaltig zu schützen.
Apotheke aus dem Meer
Grundlegende Informationen sind dabei nicht nur für Umweltschützer und Wissenschaftler interessant. Seit Jahren schon schauen sich verschiedene Wirtschaftszweige von den Meeresbewohnern einiges ab, um ihre Produkte zu verbessern. Die Haut des Haifisches diente beispielsweise als Vorbild für die Oberflächenbeschaffenheit von Flugzeugen. Aber Flora und Fauna der Meere enthalten auch viele Substanzen zum Einsatz in der Medizin. Toxine, die Schnecken gegen ihre Gegner absondern, könnten bei Rheuma hilfreich sein.
Die Abbildungen zeigen Szenenfotos aus dem Film »Unsere Ozeane« (siehe Kasten).
Chitosan aus Schalentieren macht Wundcremes und Wundauflagen besonders hautverträglich und eignet sich zur Herstellung von Operationsgarnen, die sich selbst zersetzen. Aus einem Schwamm stammt nicht nur der Wirkstoff Aciclovir, sondern spezielle Arten enthalten auch Stoffe, die entzündungshemmend wirken und das Wachstum von Krebszellen hemmen können. Schwämme gehören zu den ältesten Tieren überhaupt, sind wahre Überlebenskünstler und tragen außerdem in hohem Maße zur Reinigung der Weltmeere bei. »Ein Kilogramm Schwamm reinigt pro Tag etwa zwei Tonnen Wasser, etwa so viel, wie ein Dutzend Badewannen fasst«, sagt Professor Dr. Werner E. G. Müller in einer Pressemitteilung zum Thema »Aufbruch in die Materialwissenschaften und Nanotechnologie«. Müller arbeitet am Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und ist Koordinator des BMBF-Exzellenz-Zentrums BiotecMarin. Aufgabe des Zentrums ist die Entwicklung neuer Arzneistoffe aus marinen Organismen.
Die Natur und speziell auch den Lebensraum der Tiefsee zu schützen und Artenvielfalt zu bewahren: ein Thema nicht nur für Umweltschützer und Wissenschaftler, sondern ein Thema für alle Menschen. /
Die Vereinten Nationen haben 2010 zum »Internationalen Jahr der Artenvielfalt« erklärt, um auf den weltweit drohenden Verlust der biologischen Vielfalt von Tieren und Pflanzen aufmerksam zu machen.
Die Biodiversität nimmt weltweit kontinuierlich ab. Der Verlust des Lebensraums gehört zu den wichtigsten Bedrohungen der Arten. Verursacht durch Umweltveränderungen wie zum Beispiel Klimaerwärmung, Verschmutzung der Lebensräume, Überdüngung, Überfischung, Jagd, Ausbeutung der Ressourcen und die Ausbreitung fremder Arten. Nach Schätzungen sterben täglich 150 Arten aus. Es ist nicht exakt bekannt, wie viele Lebewesen heute auf der Erde leben. Experten gehen von circa 15 Millionen existierenden Arten aus. Derzeit bekannt und beschrieben sind circa 1,8 Millionen, auf ihre Gefährdung hin untersucht wurden bisher etwa 40 000 Arten.
Der Mensch ist von stabilen und funktionsfähigen Ökosystemen abhängig. Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen sichern den Menschen seit Jahrtausenden Nahrung, Rohstoffe und Technologien.
In der Erdgeschichte ist das Artensterben der biologische Normalfall, ihr Kommen und Gehen ganz natürlich. Weil der Mensch aber in nahezu alle Ökosysteme eingreift, verläuft das Aussterben von Arten mit der vielfachen Geschwindigkeit der natürlichen Auslese. Dabei geht es bei Biodiversität nicht nur um ethische und ästhetische Werte, sondern auch um wirtschaftliche Aspekte.
Passend zum »Internationalen Jahr der Biodiversität« startet am 25. Februar 2010 der Film »Unsere Ozeane« in den Kinos. Vier Jahre waren die Regisseure Jacques Perrin und Jacques Cluzaud mit einem Team aus Tauchern, Technikern und Wissenschaftlern auf Entdeckungsreise in noch weitgehend unerforschten Meeresgebieten. Entstanden ist eine faszinierende Dokumentation über das »Innenleben« der Ozeane – mit Bildern von majestätischen Walen über schillernde Heringsschwärme bis zu den bizarr geformten Lebewesen der Tiefsee.
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Darlene T. Crist, Gail Scowcroft, James M. Harding jr.: Schatzkammer Ozean. 244 Seiten, 250 Abbildungen. Erste Auflage 2010, Spektrum Akademischer Verlag.