Frühe Belastungen wirken lange nach |
25.01.2017 10:42 Uhr |
Von Christina Hohmann-Jeddi / Stress in früher Kindheit steigert im Erwachsenenalter nicht nur das Risiko für psychische Erkrankungen, sondern auch für körperliche wie Typ-2-Diabetes oder Schlaganfall. Insgesamt kann starker frühkindlicher Stress die Lebenserwartung um 15 bis 20 Jahre reduzieren, wie eine aktuelle Übersichtsarbeit zeigt.
Sind Kinder dauerhaftem Stress ausgesetzt, schadet das ihrer Gesundheit langfristig. Einen Überblick über die gesundheitlichen Folgen und die zugrundeliegenden Pathomechanismen gibt ein Autorenteam um Professor Dr. Ulrich Egle von der Klinik Barmelweid im schweizerischen Aargau in einer Publikation im »Bundesgesundheitsblatt« (DOI: 10.1007/s00103-016-2421-9).
Frühkindliche Traumatisierungen entstehen nicht nur durch Missbrauch oder Gewalterfahrungen. Auch längere Trennungen von der primären Bezugsperson oder ein inadäquates Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes, setzen diese starkem Stress aus.
Foto: Fotolia/jeecis
Dabei ist unter frühkindlichem Stress nicht nur eine anhaltende deutliche Belastung etwa durch Missbrauch oder Vernachlässigung zu verstehen. Zu den Risikofaktoren zählen neben einer längeren Trennung von der primären Bezugsperson im ersten Lebensjahr auch die Geburt eines jüngeren Geschwisters in den ersten 18 Monaten, ein chronisch krankes oder behindertes Geschwisterkind, ernste oder häufige eigene Erkrankungen sowie körperliche oder psychische Erkrankungen der Eltern. Auch eine chronische Disharmonie in der Familie, Gewalterfahrungen und Trennung der Eltern können sich negativ auswirken. Belastend wirken zudem ein niedriger sozialer Status, ein niedriges Bildungsniveau in der Familie sowie eine Suchterkrankung eines Elternteils.
Die einzelnen Risikofaktoren wirken kumulativ, heißt es in der Publikation. Je mehr Risikofaktoren zusammenkommen und je länger sie vorliegen, desto drastischer sind die negativen Folgen. Verstärkend wirke bei Kleinkindern mehreren Studien zufolge ein erhöhter Fernsehkonsum von mehr als zwei Stunden täglich. Dies ist möglicherweise dadurch zu erklären, dass Kinder, die vor dem Fernseher sitzen, weniger mit Eltern, anderen Familienmitgliedern und Freunden interagieren, so die Autoren.
Das Ganze ist jedoch kein Automatismus: Trotz widriger Verhältnisse entwickelt sich ein Drittel der Kinder, bei denen mehrere Risikofaktoren vorliegen, zu psychisch stabilen und leistungsfähigen Erwachsenen. Offensichtlich gibt es auch schützende Faktoren. Dazu gehören zum Beispiel eine gute Bindung zur primären Bezugsperson im ersten Lebensjahr, wenige Geschwister und ein Abstand von mehr als zwei Jahren zum nächsten Geschwisterkind. Auch Unterstützung von anderen Familienmitgliedern oder außerhalb der Familie hat einen schützenden Effekt.
Belastete Psyche
Dass frühkindliche Belastungen das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen, ist schon seit fast 50 Jahren bekannt. Sie steigern die Vulnerabilität für eine psychische Störung, wie Depression oder Angsterkrankung, um das Doppelte, Essstörungen treten bei Betroffenen sogar drei- bis fünfmal so häufig auf. Zudem ist die Suizidrate stark erhöht. Auch die Rate sogenannter somatoformer Erkrankungen wird durch frühkindliche Belastungserfahrungen auf das Zwei- bis Vierfache gesteigert. Zu diesen Erkrankungen zählen das chronische Fatigue-Syndrom, das Fibromyalgie-Syndrom oder das Reizdarmsyndrom.
Neben der Psyche leidet aber auch der Körper. Das zeigt auch die retrospektive Beobachtungsstudie Adverse Childhood Experiences (ACE) Study, bei der die Daten von etwa 17 000 Versicherten einer US-amerikanischen Krankenversicherung ausgewertet wurden. Der Studie zufolge haben Menschen, deren Kindheit von vier oder mehr Risikofaktoren belastet war, ein zwei- bis vierfach höheres Risiko für eine ganze Reihe von Krankheiten. Hierzu zählen Typ-2-Diabetes, Schlaganfall, koronare Herzkrankheit, Hepatitis B, chronisch-obstruktive Lungenerkrankung und verschiedene Krebsarten. Körperliche und psychische Erkrankungen und die Suizidalität tragen zusammen dazu bei, dass die Lebenserwartung von Menschen mit belasteter Kindheit deutlich reduziert ist. So sterben der ACE-Studie zufolge Personen mit sechs oder mehr Risikofaktoren durchschnittlich im Alter von 60,6 Jahren und damit 18,5 Jahre vor einer Vergleichsgruppe, die eine weitestgehend stressfreie Kindheit erlebt hatte.
Schädigende Mechanismen
Wie kommen die Schäden zustande? Eine zentrale Rolle spielt dabei die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse), die die Stressreaktion des Körpers und damit auch die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol reguliert. Gerät ein Kind häufig und anhaltend unter Stress, ändern sich Menge und tageszeitlicher Rhythmus des Cortisols und anderer Hormone wie Oxytocin, das Schmerzempfinden wird lebenslang gesteigert und die Entzündungsneigung nimmt zu. Proinflammatorische Botenstoffe wie Interleukin-6 und TNF-α werden verstärkt exprimiert. Anhaltender Stress kann in manchen Gehirnarealen eine Neuroinflammation verursachen, was neueren Erkenntnissen zufolge mit der Entstehung von Depressionen in Verbindung gebracht wird.
Zudem ist belegt, dass sich Größe und Funktion verschiedener Hirnareale durch frühkindlichen Stress und anhaltend hohe Cortisollevel verändern. So schrumpfen der Hippocampus und der präfrontale Cortex und ihre Aktivität nimmt ab, was zu gewissen kognitiven Einbußen führen kann. Dagegen ist die Amygdala, die für die emotionale Bewertung von Ereignissen oder Situationen verantwortlich ist, vergrößert und hyperaktiv. Das ist als negativ zu bewerten, da die Amygdala maßgeblich an der Furchtkonditionierung beteiligt ist und eine Hyperaktivität den Weg in eine Angsterkrankung ebnet.
Durch die neurobiologischen Veränderungen könnten die Aufmerksamkeit sowie die Affekt- und Selbstregulation eingeschränkt sein, und es stehen den Betroffenen im Alltag womöglich oft nur unzureichende Strategien zur Stressbewältigung zur Verfügung, heißt es in der Publikation. Darunter litten die soziale Kompetenz und das Selbstwerterleben. Häufig versuchten Betroffene, die negativen Emotionen durch den Konsum von weichen oder harten Drogen zu kompensieren. Auch promiskuitives Verhalten und andere gesundheitlich riskante Verhaltensweisen seien bei betroffenen Jugendlichen häufiger zu beobachten als bei Jugendlichen mit stressarmer Kindheit.
Diese schädliche Kaskade sollte möglichst frühzeitig unterbrochen werden, fordern die Autoren. Zustimmung ernten sie von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin (DGPM). Sie teilt anlässlich der Publikation mit, dass Präventionsansätze, in denen besonders gefährdete Familien identifiziert und unterstützt werden, bereits existieren. Bisher würden sie jedoch nur in Modellprojekten realisiert.
Auch die frühzeitige Therapie beginnender psychosomatischer Störungen bei Erwachsenen könne helfen, Betroffene früher zu erkennen und ihnen eine adäquate Behandlung zu vermitteln. »Diese Ansätze müssen endlich flächendeckend etabliert werden«, fordert Professor Dr. Harald Gündel, Mediensprecher der DGPM. Das sei Aufgabe der Politik. Nur so ließen sich die enormen Folgen sowohl in gesundheitlicher als auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht begrenzen. /