Ruhe suchen, Stille meiden |
10.01.2012 11:26 Uhr |
Von Maria Pues, Frankfurt am Main / Im Ohr pfeift, klingelt oder rauscht es, ohne dass man eine Geräuschquelle ausmachen könnte. Bei der Erklärung für den Lärm im Ohr findet ein Umdenken statt.
Von 100 Personen, die sich in einen schallisolierten Raum begeben, entwickeln über 93 nach etwa fünf Minuten einen Tinnitus, erläuterte Professor Dr. Holger Stark, Universität Frankfurt am Main, auf einer Veranstaltung der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft. Zwar verschwinden die Phantom-Töne bei den meisten nach Verlassen des Raumes wieder. Dennoch handelt es sich bei Tinnitus um ein verbreitetes Phänomen. Circa zehn Millionen Menschen leiden in Deutschland zumindest zeitweise daran, davon 2,7 Millionen an einer behandlungsbedürftigen Form. Von rund 304 000 Neuerkrankungen pro Jahr gehen Schätzungen aus.
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Dabei ist Tinnitus nicht gleich Tinnitus: So kann dieser mit oder ohne Hörverlust einhergehen. In den meisten Fällen handelt es sich um einen subjektiven Tinnitus. Auch diese Form lässt sich differenzieren: Handelt es sich um Innenohrgeräusche, spricht man von einem Tinnitus aureus, bei Kopfgeräuschen von einem Tinnitus cerebri. Über bilaterale Geräusche klagen 60 Prozent der Patienten, 40 Prozent über unilaterale. Die meisten bezeichnen die Geräusche als von mittlerer Lautstärke, aber als sehr störend. Nur in sehr seltenen Fällen findet sich eine objektivierbare Ursache für die Töne, zum Beispiel Gefäßfehlbildungen.
In Sachen Ursachenforschung findet ein Umdenken statt. Früher vermutete man, dass eine verminderte Durchblutung zu den je nach Intensität lästigen bis belastenden Symptomen führt (siehe Tabelle). Die Behandlung zielte daher auf eine Verbesserung der Durchblutung ab. Heute geht man eher von neurogenen Störungen aus, zum Beispiel durch Schädigungen des Innenohrs durch Lärm. Schaden nehmen könne das eigentliche Hörorgan, das sogenannte Cortische Organ, erläuterte Stark. 15 000 Haarzellen nehmen den Schall als physikalischen Reiz auf und wandeln ihn in einen elektrischen Reiz um. Dabei entsteht eine sogenannte Wanderwelle, die durch die äußeren Haarzellen gesteuert und verstärkt wird. Dies geschieht nicht linear, sondern dynamisch: Je leiser das Geräusch, desto mehr wird es verstärkt. Zudem bewirken Aufmerksamkeit (über die Formatio reticularis) und Emotionen (über die Amygdala), die im Normalfall einen Filtereffekt haben, bei Tinnitus einen Verstärkereffekt. Stark: »Wir hören nicht mit den Ohren, sondern mit dem Gehirn.«
Schweregrad | Häufigkeit | |
---|---|---|
Grad I | kompensiertes Ohrgeräusch, kein Leidensdruck | 35-40% |
Grad II | Tinnitus wird hauptsächlich in der Stille wahrgenommen, wirkt störend bei Stress und psychisch-physischen Belastungen | 11-17% |
Grad III | dauernde Beeinträchtigung im Privat- und Berufsleben, Störungen im Emotionalen, Kognitiven und Körperlichen | 8% |
Grad IV | völlige Dekompensation im Privaten | 0,5% |
Tritt ein Tinnitus akut auf, ist ein zügiger Arztbesuch anzuraten. Um einen medizinischen Notfall handelt es sich dabei jedoch nicht. Der HNO-Arzt verabreicht üblicherweise Infusionen und/oder Glucocorticoide, um die Mikrozirkulation zu verbessern sowie Schwellungen und Entzündungen zu vermindern. Daneben kommen die Entfernung eines Cerumen-Pfropfs, eine Lidocain-Procain-Therapie oder eine hyperbare Sauerstofftherapie zum Einsatz. Bei einer Behandlung in den ersten 24 Stunden verzeichnen Mediziner eine Heilungsrate von über 70 Prozent. Diese liegt allerdings nicht signifikant über dem Placebo-Niveau. Wichtig sei, den Betroffenen Hinweise mitzugeben, denn der Tinnitus sei ein Warnsymptom, betonte Stark. So sei es wichtig, sein reguläres Leben weiterzuführen, man müsse jedoch unbedingt die Belastung reduzieren, Pausen einplanen und versuchen, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
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Einziges Arzneimittel mit der zugelassenen Indikation Tinnitus ist Ginkgo-Extrakt. Postulierte Wirkung ist eine Verminderung der Blut-Viskosität. Tatsächlich zeigen einige Studien Vorteile gegenüber Placebo. Neuere Studien sowie eine Metaanalyse der Cochrane Collaboration konnten diese jedoch nicht bestätigen. Off-Label kommt eine große Zahl verschiedener Wirkstoffe zum Einsatz, zum Beispiel aus den Gruppen der Anxiolytika, Antidepressiva oder Glutamat-Antagonisten.
Eine medikamentöse Therapie steht beim chronischen Tinnitus nicht zur Verfügung. Es kommen stattdessen verschiedene Geräte zum Einsatz, die die Tinnitus-Geräusche maskieren sollen (sogenannte Noiser). Die Tinnitus-Retraining-Therapie besteht aus einer Kombination aus Beratung, psychologischer Betreuung, Entspannungstechniken und Noisern. Zwar sei sie sehr patientenorientiert, erläuterte Stark, doch auch sehr langwierig und kostenintensiv. Eine klare Studienlage fehle auch hier. Bei der maßgeschneiderten Musiktherapie wird die Tinnitusfrequenz aus einem Musikstück »herausgeschnitten«. Zwar sprachen die Probanden einer kleinen Studie gut auf die Behandlung an, doch sei der Effekt nicht dauerhaft gewesen. »Und man muss die Musik ertragen können«, betonte Stark. So waren manche über sechs Stunden am Tag mit Musikhören beschäftigt. Wieder einmal gescheitert ist vor Kurzem der Versuch, ein Medikament gegen die Töne zu entwickeln. So hat Merz die Phase-III-Studien mit dem vielversprechenden Kandidaten Neramexan gestoppt, da sich die Wirksamkeit nicht von Placebo unterschied.
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lautstarke Umgebungen meiden
aktiv persönlich Positives genießen und mit dem Tinnitus verbinden, damit der Tinnitus nicht als negativ oder als Bedrohung empfunden wird
Stressreduktion
negative Gefühlswelt mit positiven Eindrücken verbinden
Entspannungstraining (Qi Gong, Tai-Chi, Massage et cetera)
sanfte Hintergrundgeräusche im Umfeld (Springbrunnen oder Waldgeräusche von der CD)
sportliche Aktivitäten (Joggen, aber kein Leistungssport)
eigenes Geräuschumfeld kreieren
verschiedene Therapiekonzepte testen
sich nicht vom Tinnitus bestimmen lassen
Zwar vergrößere die hohe Placeborate allgemein die Schwierigkeiten, ein wirksames Medikament auf den Markt zu bringen, sagte Stark. Aber die hohe Spontanheilungsrate biete Patienten auch eine Chance. »Besser eine gute Placebo-Wirkung als gar keine Therapie«, sagte Stark. Denn werde ein Tinnitus nicht behandelt, bestehe eine erhöhte Gefahr der Chronifizierung. Dazu trägt auch bei, dass Tinnitus »gelernt« werden kann. So erhöhe ausgerechnet die von Betroffenen herbeigesehnte Stille die Gefahr, dass sich ein Tinnitus verfestigt. Eine geräuscharme Umgebung bewirkt eine Sensibilisierung, diese wiederum führt zu einem erhöhten Störempfinden, das seinerseits den Tinnitus und die Hörstörungen verschlechtert. Diese verstärken wiederum das fatale Bedürfnis nach Stille. Ein Teufelskreis. Stark rät daher, die – innere, meditative – Ruhe zu suchen und die – lärmreduzierte – Stille zu meiden. /