Der zweite Code im Buch des Lebens |
09.01.2012 08:32 Uhr |
Von Peter Spork / Mit den Erkenntnissen der Epigenetik wachsen nicht nur die Chancen der Entwicklung neuer medikamentöser Therapieoptionen. Auch der Prävention kommt neue Bedeutung zu, wenn Menschen ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln gerecht werden wollen.
Nicht allein die Gene machen Menschen und offenbar auch ihre Nachkommen zu dem, was sie sind. Mit Hilfe der Epigenetik hat die Forschung zahlreiche biochemische Strukturen an und neben den Genen entdeckt, die deren Aktivität dauerhaft regulieren. Es sind diese »epigenetischen« Marker, die der Zelle nicht nur Identität, sondern auch Gedächtnis verleihen.
Nicht allein die Gene machen Menschen und ihre Nachkommen zu dem, was sie sind.
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Die Medizin ist im Begriff zu lernen, das Erbgut im Dienst von Krankheitsbekämpfung und -vorbeugung mit Hilfe der Beeinflussung von Epigenomen gezielt zu steuern. Ein gesellschaftliches Umdenken in Fragen des Lebensstils muss erst noch stattfinden.
Kanalisation der Entwicklung
Zum Glück sind Menschen verschieden. Dass dafür die Gene verantwortlich sind, gehört zum Allgemeinwissen. Doch ist das nur die halbe Wahrheit: Äußere Einflüsse in Form zum Beispiel von Ernährung oder auch seelischem Stress können die Aktivität der Gene nicht nur vorübergehend, sondern auch dauerhaft im Kindes- und Erwachsenenalter verändern.
Diese äußeren Einflüsse prägen jede menschliche Zelle und reden deshalb ein gewichtiges Wort mit, wenn es um Eigenschaften wie psychische Stabilität, Lebenserwartung und Krankheitsanfälligkeit geht.
Die Erkenntnis, dass bei der Ausprägung der menschlichen Identität Umwelt und Erbe Mitspieler sind, ja, dass ihr funktionierendes Zusammenspiel sogar Grundvoraussetzung für eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung ist, ist nicht neu.
Schon 1942 entwarf der britische Entwicklungsgenetiker Conrad Hal Waddington (1905-1975) sein berühmtes Bild der »epigenetischen Landschaft«: Danach rollt ein sich entwickelnder, älter werdender menschlicher Organismus im Laufe des Lebens wie eine Murmel durch zahlreiche Täler über abschüssiges Gelände herab (Grafik).
Wie eine Murmel, die durch viele Täler rollen kann, entwickelt sich der Genotyp eines Menschen im Laufe des Lebens zu vielen theoretisch möglichen Phänotypen.
Das Landschaftsrelief symbolisiert die genetische Grundausstattung des Organismus. Die Täler stehen für die verschiedenen möglichen genetischen Aktivitätsprofile des Genoms der Zelle.
Umwelteinflüsse können die Murmel, sprich den Organismus, von der einmal gewählten (Lebens)Bahn ablenken oder an einer Verzweigung zum Wechsel in ein anderes Tal bewegen, was zur Folge hat, dass er sich verändert. Welche der Täler, also epigenetischen Programme, er letztlich wählt, wird durch entwicklungsbiologische Vorgaben und Umweltsignale beeinflusst.
Diese Epigenome, so Waddington, »kanalisieren« die Entwicklung des Menschen. Es seien viele theoretisch mögliche Phänotypen, zu denen sich ein Genotyp im Laufe des Lebens entwickeln kann.
Schalter an den Genen
Die rund 200 menschlichen Zelltypen besitzen die gleichen Gene, aber unterschiedliche epigenetisch fixierte Genaktivitätsmuster und damit eine jeweils völlig andersartige Identität.
Diese Epigenome sind für die verschiedenen Erscheinungen verantwortlich, die ein Mensch als Ganzes im Zuge seiner Anpassung annehmen kann.
Das beginnt bei der Zahl der aktiven Schweißdrüsen, die vom in frühester Kindheit erlebten Klima abhängt, und endet bei Körpergröße und -fülle, beides Merkmale, die maßgeblich auch und gerade von der frühen Ernährung beeinflusst werden.
Schon 1939 hat Waddington den alten Begriff der Epigenetik neu erfunden: Die griechische Vorsilbe »Epi« bedeutet so viel wie »neben«, »über«, »zusätzlich« oder »anbei«.
Nach modernster Definition ist Epigenetik tatsächlich eine Art Zusatzgenetik: Sie beschreibt alle nicht genetischen Strukturen, die die Eigenschaften und den Stoffwechsel einer Zelle kontrollieren und von ihr an ihre Tochterzellen weitergegeben werden (1).
So sind mitotisch – also ungeschlechtlich – vererbte epigenetische Schalter beispielsweise der Grund, dass aus einer Blutstammzelle immer nur Blutzellen entstehen, während sich zum Beispiel neues Hautgewebe immer nur aus Hautvorläuferzellen entwickelt. Wie goldrichtig Waddington mit seiner Begriffswahl lag, sollte sich erst Jahrzehnte später herausstellen.
Zunächst war es die Analyse und Erforschung der Struktur der DNA-Doppelhelix, die im Fokus der Wissenschaft stand.
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Zunächst war es die Erforschung der DNA-Doppelhelix, die im Fokus der Wissenschaft stand. Nachdem viele Genetiker intensive Vorarbeit geleistet hatten, beschrieben James Watson und Francis Crick 1953 erstmals den Bauplan der Desoxyribonukleinsäure. Binnen 50 Jahren gelang es, den menschlichen Gencode vollständig zu entschlüsseln.
Weitgehend im Schatten dieser sensationellen Arbeiten widmeten sich einige wenige Wissenschaftler weiterhin den Strukturen, die sich neben, über oder an den Genen befinden – ein gewagtes Unterfangen, hielt man diese damals doch für weitgehend funktionslos. Man dachte, sie dienen lediglich der Gen-Verpackung, nicht jedoch der Genregulation.
Ein großer Irrtum! Tatsächlich sollte sich zeigen, dass die Variationen der epigenetischen Strukturen weitaus mehr sind als eine bloße Laune der Natur. Heute ist bekannt, dass epigenetische Schalter ungeahnte vielfältige, fein abgestufte Fähigkeiten zur biochemischen Veränderung, Beeinflussung und (De)Aktivierung der Gene besitzen.
Lebensstil hinterlässt Spuren
Wie »Bibliothekare« bestimmen die epigenetischen Marker, welche Kapitel eine Zelle in ihrem »Buch des Lebens« lesen kann und welche nicht. Mit anderen Worten: Die Epigenome sind die Software, die der Hardware, den Genen, Arbeitsaufträge erteilt.
Mit Hilfe der komplexen Erkenntnisse zur Epigenetik lassen sich auch Phänomene wie Resilienz und Langlebigkeit erklären. Fehlregulierte Epigenome scheinen an der Entstehung und Ausprägung vieler Krankheiten beteiligt zu sein.
Der Werkzeugkasten der Epigenetik ist beeindruckend: Unter anderem die Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling ist letztlich eine ontogenetisch gesteuerte Umprogrammierung der Epigenome zahlreicher Zellen.
Im Gegensatz dazu fällt die wichtigste Entscheidung zum Beispiel im Leben einer Biene durch ein Umweltsignal: Ob die Larve zur langlebigen, fruchtbaren Königin oder zur Arbeiterin wird, hängt vom Futter ab.
Geben ihr die Ammenbienen vom dritten Tag ihres Lebens an nur Gelée Royal, lässt sie die entsprechende Aktivität der Epigenome zur Königin des Bienenvolkes werden (2).
Auch beim Menschen werden die Epigenome im Laufe des Lebens (3) durch Klima, Nahrung, seelische Einflüsse oder Stress und vieles mehr beeinflusst. Gemäß ihres Lebensstils unterscheiden sich selbst eineiige Zwillinge, epigenetisch betrachtet, mit zunehmendem Alter immer mehr.
Epigenetische Marker bestimmen, welche Kapitel eine Zelle in ihrem »Buch des Lebens« lesen kann.
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Die gelebten Jahre hinterlassen molekularbiologische Spuren in den Zellkernen und prägen das Erinnerungsvermögen der Zellen. Das kann dazu führen, dass ein Zwilling ein hohes Krebs- oder Diabetesrisiko hat, der andere nicht (4).
Wie funktionieren epigenetische Schalter? Lassen sie sich mit Hilfe von Medikamenten und/oder präventiven Maßnahmen verstellen? Können mit ihrer Hilfe möglicherweise eines Tages gar bislang unheilbare Leiden geheilt werden? Das sind die derzeit wirklich spannenden Fragen.
Steuerung durch Methylierung
Mindestens ein Fünftel der rund 22 000 Gene der menschlichen DNA-Doppelhelix, so heutiger Erkenntnisstand, unterliegt der epigenetischen Steuerung. Es existieren mehrere Schaltersysteme, die sich mehr oder weniger konsequent an- oder ausschalten lassen.
Am besten erforscht ist das System der Methylierung der Cytosin-Basen der DNA, die das Ablesen der eigentlichen genetischen Informationen verhindern kann. Die Methylierung von Cytosin-Basen bevorzugt dort, wo sich Cytosin- und Guanin-Basen abwechseln (CpG-Inseln), macht die eigentliche Erbinformation an diesen Stellen unlesbar.
Andere epigenetische Schalter sitzen an den Histonen, die wie »Kabeltrommeln« wirken, um die sich die DNA mehr oder weniger fest aufwickelt. Ob dicht und somit inaktiv oder locker »verpackt« und somit aktiv: Das Nukleosom, um das sich der DNA-Faden wickelt, besteht immer aus acht Histonen.
An verschiedenen Stellen der Endigungen der Histone können Enzyme beispielsweise Acetylgruppen anlagern oder entfernen. Das beeinflusst die Festigkeit der DNA-Nukleosom-Bindung und damit die Ablesbarkeit der DNA. Durch die Art der Verknüpfung im Verbund mit der DNA können die Histone das Informationspotential von Genen in zahlreichen Abstufungen erleichtern oder erschweren.
An die Acetylgruppen binden zudem Eiweiße, die unter anderem die Genregulation direkt beeinflussen. Ähnlich wie hier hat die Zelle zahlreiche weitere Möglichkeiten, das Nukleosom und damit die Aktivität eines DNA-Abschnitts zu variieren.
Bis heute wurden 50 verschiedene Histonmodifikationen entdeckt, die nicht nur durch Acetylierungen, sondern auch durch Methylierungen, Ubiquitinierungen und Phosphorylierungen auf verschiedenste Weise Einfluss nehmen können. Die Rede ist von einem »Histon-Code«. Wie dieser allerdings von einer Zelle an ihre Tochterzellen weitergegeben wird, ist noch weitgehend unklar (1).
Das dritte zentrale epigenetische Schaltersystem basiert auf der Produktion von Mikro-RNAs, sogenannte nicht kodierende RNAs, die die Übersetzung spezifischer Erbinformationen durch Blockierung oder Dämpfung ausgewählter Gene verhindern. Für die Entdeckung dieser RNA-Interferenz erhielten Andrew Fire und Craig Mello (beide USA) im Jahr 2006 den Medizin-Nobelpreis.
Die Codes der Mikro-RNAs verstecken sich in DNA-Abschnitten, die man früher gleichermaßen für sinnlos hielt und deshalb als Müll-DNA bezeichnete. Auch hier ist noch unklar, wie die Zellen die entsprechenden Informationen an ihre Töchter weitergeben.
Prägung über Generationen
Veränderungen der epigenetischen Schaltersysteme sind, wie bereits erwähnt, nicht nur essenziell für eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung. Sie scheinen auch bei der Entstehung zahlreicher Krankheiten eine wichtige Rolle zu spielen.
Charakteristische epigenetische Entstehungs-Muster wurden mittlerweile bei vielen körperlichen und seelischen Erkrankungen, etwa bei Karzinomen, aber auch bei Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen, identifiziert.
Es häufen sich Hinweise, dass epigenetische Marker bereits in empfindlichen Frühphasen des menschlichen Organismus entscheidende Impulse setzen. Hervorzuheben sind hier die Phasen der Organentwicklung – also die Zeit während des Heranreifens im Mutterleib und die ersten Jahre des Lebens bis hin zur Pubertät.
Mit anderen Worten: Der Lebensstil der werdenden Eltern sowie das psychosoziale Klima, aber auch die Ernährung in der Kindheit tragen entscheidend zur Krankheitsanfälligkeit im gesamten späteren Leben bei.
Vermutet wird, dass frühkindliche Traumata eine anhaltende Umprogrammierung menschlicher Hirnzellen und somit Jahrzehnte später körperliche oder psychische Erkrankungen auslösen können (5). Angenommen wird auch, dass eine Überernährung im Mutterleib eine Prägung von Stoffwechselzellen herbeiführt, die im höheren Lebensalter zur Entstehung von Typ-2-Diabetes, Fettsucht oder Herz-Kreislauf-Krankheiten beitragen kann (6).
Larven eines Bienenvolkes werden zur Bienenkönigin, wenn sie von den Arbeiterbienen vom dritten Tag ihres Lebens an Gelée Royal erhalten und so spezifische Epigenome aktiviert werden.
Foto: Fotolia/Heinz Walduka
»Die meisten Krankheiten entstehen nicht erst im Erwachsenenalter. Ihr Ursprung liegt oft bereits in den frühen Entwicklungsstadien direkt nach der Befruchtung«, hat der weltweit bekannte Epigenetiker Randy Jirtle, Toxikologe an der Duke University in Durham, USA, konstatiert. Veränderungen der Epigenome scheinen die Weichen zu stellen (7).
Weitreichende Konsequenzen
Neue Studien lassen zudem vermuten, dass epigenetische Veränderungen über Keimbahngrenzen hinweg an folgende Generationen weitergegeben werden können. Eine solche Erkenntnis hat weit reichende Konsequenzen für zukünftige Präventionsstrategien im Kampf etwa gegen Leiden wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Angststörungen und Depressionen.
In der Therapie ist der »epigenetische Weg« dagegen bereits seit einiger Zeit eine unverrückbare Tatsache. So ist die Existenz spezifischer Epigenome bei bösartigen Tumoren bekannt (8). Charakteristische epigenetische Unterschiede wurden bei unterschiedlich aggressiven Mamma-, aber auch Lungen-, Darm-, Eierstock- oder Prostata-Karzinomen beobachtet (9).
Diskutiert wird, ob die Analyse der Methylierungs-, Histon- oder Mikro-RNA-Muster zukünftig Aussagen zur Früherkennung oder auch Prognose erlaubt. Selbst die gezielte epigenetische Prävention von Krankheiten durch entsprechende Nahrung(sergänzung) ist denkbar (10).
Das meiste davon ist jedoch noch Zukunftsmusik. Bereits Realität ist die Entwicklung epigenetischer medikamentöser Therapeutika wie zum Beispiel das seit 2009 EU-weit zur Therapie des Myelodysplastischen Syndroms (MDS) zugelassene 5-Azacytidin als Pyrimidin-Analogon (11).
Als klassisches Zytostatikum hoch dosiert verabreicht, wird es als Antimetabolit in die Erbsubstanz eingebaut und hemmt die DNA-, RNA- und damit auch die Proteinsynthese. Nicht-proliferierende Zellen sind relativ unempfindlich gegen das Medikament.
Im epigenetischen Ansatz wird das Medikament wesentlich niedriger dosiert (12). Danach führt 5-Azacytidin zur Inaktivierung von DNA-Methyltransferasen und so zu einer Hypomethylierung der Erbsubstanz. Da dieser Effekt nur in kleinen Schritten und immer nur nach Zellteilung einsetzt, muss die Therapie über einen sehr langen Zeitraum durchgeführt werden.
Bereits in empfindlichen Frühphasen des menschlichen Organismus, also vor der Geburt und in den ersten Jahren des Lebens, können epigenetische Signale entscheidende Impulse setzen.
Foto: Fotolia/Katrina Brown
Schließlich scheint die Hypomethylierung von irrtümlich methylierten Genen dazu zu führen, dass die normale Funktion von Genen wiederhergestellt wird, die an der Regulation des Zellzyklus, der Zelldifferenzierung und der Apoptose beteiligt sind.
Nicht übersehen werden darf jedoch das gleichermaßen große Nebenwirkungspotential dieser epigenetischen Medikamente. Möglicherweise werden auch krebsunterdrückende Funktionen wieder aktiviert.
Als weitere epigenetische Medikamente gelten das in den USA ebenfalls zur MDS-Therapie zugelassene, mit 5-Azacytidin verwandte Decitabin, aber auch Valproinsäure oder Vorinostat als Histondeacetylase-Inhibitor, der in den USA zur Behandlung kutaner Lymphome zugelassen ist.
In der Forschungs-Pipeline sind zahlreiche weitere Medikamente, die in der Lage sind, epigenetische Schalter zu bedienen. Allein die elf bekannten Wirkstoffe der Klasse der Histondeacetylase-Hemmer (HDAC-Hemmer) als Hoffnung für Krebs-, aber auch Alzheimer-Patienten werden derzeit weltweit in mindestens 80 klinischen Studien erprobt (13).
Der kanadische Epigenetiker Moshe Szyf, Montreal, könnte Recht behalten mit seiner Prognose: »Der epigenetische Weg ist der Weg, der in die Zukunft der Krebstherapie führt« (7).
Erfolg in Tiermodellen
Im Tiermodell konnten Mäuse mit Altersdemenz-Erscheinungen aufgrund des Verlustes ihrer Lernfähigkeit in Folge spezifischer Veränderungen des Histon-Codes ihrer Hirnzellen durch Applikation eines HDAC-Hemmers geheilt werden (14).
Tierversuche zeigen auch, dass frühkindlicher Stress das Erbgut bestimmter Hirnzellen von Mäusen und damit deren Neigung zu Depressionen nachhaltig prägen kann. Bei traumatisierten Tieren wurde aufgrund einer epigenetisch bedingten Überproduktion von Vasopressin eine Enthemmung und Überempfindlichkeit der Stressachse beobachtet (15).
Die Medizin weiß heute, dass unter Kontrolle des Hypothalamus in Stresssituationen, die Herausforderung, Schaden, Verlust oder Bedrohung bedeuten, im Nebennierenmark unter anderem die »Fight- and Flight«-Hormone Adrenalin und Noradrenalin sowie Cortisol freigesetzt werden.
Sympatikotonus, Blutdruck und Pulsschlag werden erhöht, die Immunabwehr wird geschwächt. Verdauungs- und Sexualfunktionen werden vermindert beziehungsweise ausgeschaltet. In dieser Alarmphase wird durch Einwirkung der Nebenierenrindenhormone an den Synapsen des ZNS gleichzeitig die kognitive Leistungsfähigkeit und Lebensfreude herab gesetzt. Auch die beobachteten Mäuse zeigten Anzeichen von Gedächtnisschwäche und Depressionen.
Bereits 2004 belegten kanadische Studien, dass Ratten, die von ihren Müttern schlecht umsorgt werden, durch epigenetische Veränderungen zur gestörten Bildung von Stresshormonrezeptoren im Hippocampus neigen. Die betroffenen Tiere waren besonders aggressiv, reizbar und ängstlich (7).
Gleichermaßen an Mäusen wurden epigenetische Besonderheiten entdeckt, die als Biomarker zur Messung von Intensitäten zurückliegender Belastungen geeignet sein könnten. Das Gen Fkbp5 war umso stärker methyliert, je mehr Stresshormone die Tiere aufgrund außerordentlicher Belastungen in den zurückliegenden vier Wochen ausgeschüttet hatten (16).
Gemäß der Erkenntnisse der Epigenetik haben Menschen ihr biologisches Schicksal und jenes ihrer Kinder ein Stück weit selbst in der Hand.
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Stressbedingte epigenetische Veränderungen bei Mäusen werden zudem an folgende Generationen weitergegeben. Das zeigte eine Arbeit, in deren Rahmen Tiere kurz nach ihrer Geburt traumatisiert wurden. Für den Bau des Serotonin-Rezeptors verantwortliche Gene wurden epigenetisch gehemmt. Die Tiere waren zeitlebens überängstlich. Die Veränderungen waren auch noch zwei Generationen später nachweisbar (17).
Vorbeugung schon im Mutterleib
Forschungen am Menschen zeigen, dass Hirnzellen von Suizidopfern, die in früher Kindheit misshandelt wurden, ähnliche epigenetische Veränderungen wie die vernachlässigten Versuchstiere zeigten (5). 10- bis 19-jährige Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft misshandelt wurden, weisen ein verändertes Methylierungsmuster am Gen des Glucocorticoid-Rezeptors und somit überempfindliche Stressreaktionen auf(18).
Die DNA-Methylierungsmuster von mehr als hundert 15-jährigen Heranwachsenden, die von ihren Eltern in früher Kindheit stark vernachlässigt wurden, zeigten gleichermaßen veränderte Methylierungsmuster, wobei diese bei mütterlichem Stress fünfmal häufiger als bei väterlichem Stress auftraten (19).
Und eine italienische Arbeit demonstriert, wie sich Stress direkt auf die menschliche Hirnphysiologie auswirkt: Er stört die Methylierung eines spezifischen Gens, was letztlich die Gedächtnisleistung in der Großhirnrinde beeinträchtigt (20).
Die Erkenntnisse der Epigenetik deuten jedoch auch darauf hin, dass sich falsche Signale durch fehlerhaft bediente Schalter durch eine entsprechende konsequente Lebensführung, ausgewogene Ernährung, Bewegung, Entspannung und Schlaf durchaus wieder rückgängig machen lassen (7).
Offenbar haben epigenetisch gespeicherte Einflüsse der Umwelt auf die Genaktivität eine viel stärkere als bislang angenommene Wirkung auf den weiteren Verlauf des Lebens als die Gene selbst. So sind Variationen im genetischen Code nur für maximal ein Sechstel der Fälle von Fettleibigkeit verantwortlich.
Im weitaus größten Maße entscheiden über spätere Fettleibigkeit die Epigenome der Stoffwechselzellen im Embryonen- und Kindesalter, die entsprechend der Ernährungsmodalitäten geprägt werden.
Diskutiert wird, dass dieses auch der eigentliche Grund ist, warum der Versuch der Gewichtsreduktion im Erwachsenenalter so oft scheitert. Vorbeugungsmaßnahmen, die krankhaftes Übergewicht verhindern, müssen sehr viel früher ansetzen, nämlich bereits während der Monate im Mutterleib (21).
Bestätigt sich zudem die Vermutung, dass Folgen eines falschen Lebensstils auch noch über Generationen hinweg weiter gegeben werden, so bedeutet dies, dass Menschen, um die Verantwortung für ihre Kinder, Enkel und Urenkel wissend, generell nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der Gesundheit ihrer Nachkommen zuliebe vorbeugend handeln und leben müssen.
Gemäß der Erkenntnisse der Epigenetik sind Menschen keinesfalls nur Marionetten ihrer Gene, sondern haben ihr eigenes biologisches Schicksal und jenes ihrer Kinder ein Stück weit selbst in der Hand. /
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Peter Spork studierte Biologie mit den Nebenfächern Anthropologie und Psychologie in Marburg und Hamburg. 1995 promovierte er im Bereich Neurobiologie. Seit 1991 arbeitet Spork als freiberuflicher Wissenschaftsjournalist unter anderem für »Die Zeit«, »Geo« und »Bild der Wissenschaft«. Spork ist gesuchter Referent und Autor mehrerer Sachbücher für Kinder und Erwachsene, die bislang in neun Sprachen übersetzt wurden. Sein 2009 erschienenes Buch »Der zweite Code« ist das erste populärwissenschaftliche Sachbuch über Epigenetik. Seit 2010 ist Spork zudem Autor und Herausgeber des »Newsletter Epigenetik«.
Dr. rer. nat. Peter Spork, Gneisenaustraße 34, D-20253 Hamburg, E-Mail: info(at)peter-spork.de; www.peter-spork.de