Neue Leitlinie bringt Änderungen |
05.01.2011 11:29 Uhr |
Diagnose und Therapie des Reizdarmsyndroms gleichen einem Puzzlespiel. So individuell unterschiedlich die Beschwerden sind, so breit aufgestellt ist auch das mögliche Therapiearsenal. Eine neue Leitlinie, die Anfang 2011 veröffentlicht werden soll, gibt klare Empfehlungen. Was ist neu? Die PZ hat sich schon mal umgehört.
Stuhlgangsveränderungen und Bauchschmerzen, die sich nach der Defäkation häufig bessern: Das sind die beiden Aspekte, auf die sich verschiedene Definitionen des Reizdarmsyndroms bislang hauptsächlich beziehen. Da dadurch längst nicht alle Patienten erfasst werden, hat die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen (DGVS) eine neue Leitlinie aufgelegt. Sie ist allerdings noch nicht veröffentlicht. Auszüge daraus wurden auf dem Kongress für Viszeralmedizin im vergangenen Herbst in Stuttgart präsentiert.
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Die neue Leitlinie stellt vielmehr die vier Hauptsymptome Bauchschmerzen, Blähungen, Obstipation und Diarrhö in den Mittelpunkt. Aufgrund der Heterogenität des Reizdarmsyndroms gibt es keine Standardbehandlung. Deshalb hat jede Medikation zunächst den Charakter eines Therapieversuchs. Die neue Leitlinie weist darauf hin, dass die Dauer der Therapie vorab mit dem Patienten zu besprechen ist. Ein Punkt, bei dem das pharmazeutische Personal in der Apotheke gefordert ist. Denn ein medikamentöser Therapieversuch ist erst mal eine Zeitlang durchzuhalten; spricht dieser nicht an, solle er spätestens nach drei Monaten abgebrochen werden. Da nur für wenige Medikamente eine Wirksamkeit belegt ist, so hieß es in Stuttgart, richtet sich die Therapie nach dem führenden Symptom. Dabei können bereits zu Beginn, aber auch erst im Verlauf der Behandlung mehrere Substanzen kombiniert werden.
Knoten im Bauch lösen
Für die meisten Reizdarm-Patienten sind Schmerzen und Bauchkrämpfe die vorherrschenden Symptome, zeigen Umfragen. Grund dürfte eine erhöhte Motilität und eine gesteigerte Wahrnehmung von Schmerzreizen sein. Das mit Abstand am besten untersuchte Spasmolytikum ist der Oldie Butylscopolamin (Buscopan®), bezieht die neue Leitlinie Stellung. Es ist Mittel der Wahl, weil es zuverlässig bereits nach einer halben Stunde wirkt und Patienten deshalb bedarfsgerecht einnehmen können. Die perorale Einnahme ist, selbst wenn sie nach Absprache mit dem Arzt längerfristig erfolgt, nebenwirkungsarm. Unerwünschte anticholinerge Wirkungen sind eher zu erwarten, wenn Butylscopolamin als Injektion gegen Koliken verabreicht wird. Bei anderen Spasmolytika wie Mebeverin (Duspatal®) ist die Studienlage äußerst dürftig. In Einzelfällen können sie jedoch wirksam sein.
Oft bleibt das Bauchgrimmen nicht auf den Darm beschränkt, sondern auch der obere Teil des Gastrointestinaltrakts ist in Mitleidenschaft gezogen. Aufstoßen, Sodbrennen, Oberbauchbeschwerden, Völlegefühl und Übelkeit zeugen davon, dass das irritable Darmsyndrom mit einem Reizmagen, auch als funktionelle Dyspepsie bezeichnet, einhergeht. Hier können vor allem Phytopharmaka punkten:
So liegen etwa zur fixen Kombination aus Pfefferminz- und Kümmelöl (Enteroplant®) Studien vor, nach denen der Einsatz gerechtfertigt scheint. Beide ätherischen Öle wirken spasmolytisch. Während Menthol als Hauptinhaltsstoff des Pfefferminzöls diese Wirkung über einen calciumantagonistischen Effekt vermittelt, scheint Kümmelöl die Motorik der Magen-Darm-Muskulatur modulieren und wieder neu takten zu können. Pfefferminzöl eignet sich auch als Monotherapeutikum (wie Medacalm®).
Wieder im Gleichgewicht
Ein weiteres Phytopharmakon, das sowohl mit validen klinischen Studien als auch mit experimentellen Daten zum Wirkmechanismus überzeugt, ist eine fixe 9er-Kombination mit der Bitteren Schleifenblume als Hauptbestandteil (Iberogast®). Es ist sowohl für die Therapie des Reizmagens als auch des Reizdarms zugelassen. So zeigen etwa Untersuchungen mit vitalen Muskelpräparaten aus mehreren Regionen des Meerschweinchenmagens, dass der Vielstoff-Extrakt den Tonus der Magenmuskulatur in Corpus und Fundus, also im Bereich des Mageneingangs, verringert. In vivo hilft das dem Magen, sich abhängig von der Nahrungsmenge auszudehnen, und reduziert so das Völlegefühl. Umgekehrte Verhältnisse dagegen am Magenausgang, im Antrum: Dort vermag der standardisierte Extrakt die phasische Aktivität zu stimulieren. Klinisch bedeutet dies, dass die Pumpfunktion des Magens gesteigert und so einer gestörten Magenentleerung entgegengewirkt wird.
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Motilitätsbedingte dyspeptische Beschwerden können auch auf chemisch-synthetische Weise mit Prokinetika angegangen werden. Einer von zwei bis fünf Patienten spricht einer Metaanalyse zufolge auf die Behandlung mit Prokinetika an. Dazu gehören Metoclopramid (wie Paspertin®) und Domperidon (wie Motilium®). Domperidon ist vorzuziehen, da es im Gegensatz zu Metoclopramid die Blut-Hirn-Schranke nicht durchdringt und mögliche zentralnervöse Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel ausgeschlossen sind.
Klassische Arzneistoffe gegen die Luft, die nach innen drückt und nach außen drängt, sind die physikalisch wirkenden Entschäumer Simeticon (wie Lefax®) und Dimeticon (wie Espumisan®).
Ende der Warteschlange
Reizdarm-Patienten, die primär unter Verstopfung leiden, sollten als Erstes versuchen, den Engpass mit Ballaststoffen zu beheben. Ein Mehr an Ballaststoffen reduziert mitunter auch die Häufigkeit von Darmkrämpfen. Allerdings sollten Apotheker und PTA lösliche, gelbildende Ballaststoffe wie Pektine, Guar oder vor allem Plantago-ovata-Samenschalen (wie Metamucil®) empfehlen, da sie weniger Blähungen verursachen als cellulosehaltige Faserstoffe wie Weizenkleie oder Leinsamen.
Der Bauch hat seinen eigenen Kopf: Die gesamte Region von der Speiseröhre bis zum Enddarm ist umsponnen von einem Netz aus mehr als 100 Millionen Nervenzellen. Diese bilden das enterische Nervensystem, vergleichbar mit em
Zentralnervensystem.
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Abführmittel sind dann indiziert, wenn Ballaststoffe nicht den gewünschten Erfolg bringen. Sekretorisch-antiresorptiv und osmotisch wirkende Substanzen wie Bisacodyl, Natriumpicosulfat (wie Dulcolax®, Laxoberal®) sowie Lactulose (wie Bifiteral®) und Macrogol (wie Movicol®) sorgen dafür, dass man wieder zu Potte kommt. Wegen der besseren Verträglichkeit spricht sich die neue Leitlinie bei Letzteren vor allem für Polyethylenglykol-basierte Präparate aus; Lactulose hat den Nachteil häufiger Blähungen. In hartnäckigen Fällen einer chronischen Verstopfung gibt es seit rund einem Jahr für Frauen eine neue Therapieoption. Der selektive 5-HT4-Rezeptorantagonist Prucaloprid (Resolor®) hat sich bei Patientinnen als wirksam erwiesen, die auf konventionelle Laxanzien nicht ansprechen oder diese nicht vertragen. Die Substanz ist zwar derzeit nur für Frauen zugelassen, die Studienergebnisse lassen aber wenig Zweifel an der Wirksamkeit auch bei Männern.
Durchmarsch stoppen
Quellstoffe können auch die Lösung sein für Reizdarm-Patienten, die hauptsächlich von Diarrhö geplagt werden. Sie binden Flüssigkeit im Darm und verfestigen so den Stuhl. Manchen Betroffenen ist auch mit Gerbstoffen geholfen, die die Darmschleimhaut abdichten (wie Tannacomp®, Diarrhoesan®). Die neue Leitlinie präferiert jedoch Loperamid (wie Imodium®), da es am effektivsten wirkt und die beste Studienlage aufweist. Es hemmt die gesteigerte Darmperistaltik, nicht jedoch die normale Darmbewegung. Da Loperamid in der Selbstmedikation nur kurzfristig eingenommen werden darf, sollten die Patienten den Einnahmemodus mit ihrem Gastroenterologen besprechen. Sind die Durchfälle sehr häufig und heftig, ist der Flüssigkeits- und Elektrolytverlust auszugleichen (wie mit Santalyt®).
Einen immer höheren Stellenwert in der Therapie erlangen nach der neuen Leitlinie die Probiotika. Danach können E. coli Nissle 1917, Lactobacillen oder Bifidobakterien (wie Mutaflor®, InfectoDiarrstop®, Perenterol®) als sehr wirksam probatorisch bei allen Symptomen des Reizdarmsyndroms eingesetzt werden. Auch Antidepressiva gehören beim Reizdarmsyndrom zu denjenigen Arzneimitteln, die symptomunabhängig Erfolg versprechen. An erster Stelle werden trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin, Doxepin oder Trimipramin empfohlen, bei unzureichender Wirksamkeit kommen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Paroxetin oder Fluoxetin zum Einsatz.
Hauptproblematik der Antidepressiva: Nicht wenige Patienten schrecken vor einem Behandlungsversuch mit Antidepressiva zurück, da sie eine »Abhängigkeit« oder Nebenwirkungen befürchten beziehungsweise die Indikation für sich nicht sehen. Hier ist die Aufklärungsarbeit durch das pharmazeutische Personal unerlässlich. Antidepressiva sollen die Botenstoffe des enterischen Nervensystems, also des Nervensystems, das den Gastrointestinaltrakt innerviert und einhüllt, wieder in Balance bringen. Dazu sind die Dosen, die zur Behandlung des Reizmagens und -darms eingesetzt werden (10 bis 25 mg), um ein Vielfaches niedriger als zur Behandlung von Angsterkrankungen oder Depressionen (50 bis 150 mg). /