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Glicemia-2.0-Studie

Apotheker können Prävention

Ein besserer HbA1c-Wert und weniger Gewicht: Menschen mit Diabetes mellitus können viel erreichen, wenn Apotheker sie mit einem gezielten Programm begleiten. Das hat die Glicemia-2.0-Studie gezeigt. Die PZ sprach mit den Initiatoren Professor Dr. Kristina Friedland vom Institut für Pharmazie der Universität Mainz und Dr. Helmut Schlager, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts für Prävention im Gesundheitswesen der Bayerischen Landesapothekerkammer.
Brigitte M. Gensthaler
09.08.2021  18:00 Uhr

PZ: Frau Professor Friedland, Ihre Doktorandin Katja Prax hat in der Glicemia-2.0-Studie untersucht, was Apotheker in der Sekundär- und Tertiärprävention von Menschen mit Typ-2-Diabetes leisten können. Welches sind die wichtigsten Ergebnisse?

Friedland: Ganz klar die signifikante Senkung des Langzeitblutzucker-Werts HbA1c um 0,7 Prozentpunkte mehr als in der Kontrollgruppe und die Gewichtsreduktion. In der Interventionsgruppe haben knapp 25 Prozent der Teilnehmer ihr Gewicht um 5 Prozent reduziert, in der Kontrollgruppe nur 9 Prozent.

PZ: Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?

Friedland: Es gab keine unterschiedlichen Effekte auf den Blutdruck – trotz Gewichtsreduktion und mehr Bewegung. Aber allein der Einschluss in die Studie und die Eingangsgespräche mit einem Apotheker oder einer Apothekerin erhöhen die Motivation vieler Patienten für gesundheitsbewusstes Verhalten. Zudem hatten etliche Teilnehmer aus der Kontrollgruppe früher bereits an einem Betreuungsprogramm teilgenommen; vielleicht haben sie Teile davon wieder umgesetzt.

PZ: In welchen Punkten haben Sie mehr von der intensiven Betreuung erwartet?

Friedland: Beim Blutdruck und beim Nüchternblutzucker. Da waren nur Trends zu erkennen. Aber wir haben schon bei der ersten Glicemia-Studie gesehen, dass es beim Nüchternblutzucker immer gewisse Schwankungen gibt.

Schlager: Auch beim Medikationsmanagement hätten wir deutlichere Effekte erwartet. Allerdings waren alle Patienten in fachärztlicher Betreuung und die Diabetologen haben besonders auf die Medikation geachtet. Manche Apotheker haben auch in der Kontrollgruppe interveniert, wenn sie Probleme bemerkt haben.

PZ: Zurück zum HbA1c-Wert. Was bringt ein kurzzeitiger Rückgang von 8 auf 7,3 Prozent für den Patienten?

Friedland: Laut klinischer Studien reduziert eine HbA1c-Senkung um einen Prozentpunkt die Mikroangiopathien um knapp 40 Prozent und die Mortalität um etwa 20 Prozent. In der wissenschaftlichen Literatur wird eine HbA1c-Reduktion um 0,5 Prozent bereits als klinisch relevant erachtet. Allerdings können wir aus Glicemia 2.0 nicht auf Langzeiteffekte schließen. Optimal wären eine längerfristige Betreuung sowie ein Follow-up, aber das ist in einer Studie aufwendig und teuer.

Schlager: Hier liegt die Chance der öffentlichen Apotheke: Unabhängig von einer wissenschaftlichen Arbeit kann sie ihre Patienten langfristig betreuen.

PZ: Etwa 18 Prozent der Patienten sind vorzeitig aus der Studie ausgeschieden. Ist das Programm zu anspruchsvoll?

Friedland: In Betreuungsprogrammen ist das keine hohe Dropout-Rate. In der Interventionsgruppe war die Ausfallrate höher, zum einen wegen schwerer Erkrankungen, zum anderen, weil manche Patienten doch feststellten, dass das Programm zu aufwendig für sie war.

PZ: Und für die Apotheker: Wie können sie eine so intensive Begleitung im Apothekenalltag realisieren?

Schlager: Fachlich sind die Apotheker fit für ambitionierte Präventionsprogramme. In Fort- und Weiterbildung oder E-Learning-Programmen kann man sein Wissen aktualisieren; das geht auch in einer Wochenendschulung – wie bei den Studienapothekern. Die Apothekenleitung muss sich aber überlegen, ob die personellen Strukturen für diese Dienstleistung vorhanden sind. Das Glicemia-Programm ist ganz klar eine apothekerliche Aufgabe.

PZ: Welche Komponenten könnte man aus dem Glicemia-Konzept streichen, um die Hürden für Patienten und Apotheker nicht zu hoch zu setzen?

Friedland: Da kann man nichts weglassen. Das Konzept ist gut durchdacht; alle Elemente sind sinnvoll aufeinander aufgebaut und ergänzen sich. Verhaltensänderung ist keine einfache Sache.

Schlager: Kollegen können aber niederschwellig einsteigen, zum Beispiel mit Vorträgen, Screening-Tagen oder einer Aktionswoche. Dabei können sie abfragen, wie groß das Interesse an längerer Betreuung ist.

PZ: Wie hoch ist der monetäre Wert dieser Leistung, also die engmaschige Betreuung eines individuellen Diabetes-Patienten über ein Jahr?

Schlager: In der pharmakoökonomischen Analyse, bei der wir mit Professor Dr. Zerth von der Hochschule Fürth kooperieren, wurden Gesamtkosten von etwa 450 Euro pro Patient und Jahr in der Interventionsgruppe (ohne Material und Geräte) ermittelt. Solange es keine Honorierung seitens der Krankenkassen gibt, muss sich der Apothekenleiter überlegen, wie er sich seine Arbeit honorieren lässt. Einzelne Bausteine dürften die finanzielle Hemmschwelle des Patienten jedoch kaum übersteigen.

Friedland: Ein Programm, das den HbA1c um mehr als 0,7 Prozentpunkte senkt, ist deutlich mehr wert als 450 Euro – angesichts der vermiedenen Folgekosten durch Diabetes-Spätschäden. Gerade bei Patienten mit hohem HbA1c-Wert ist das Ergebnis herausragend. Glicemia ist ein preiswertes Programm.

PZ: Wird die Diabetes-Begleitung in absehbarer Zeit eine vergütete pharmazeutische Dienstleistung werden?

Schlager: Der DAV verhandelt aktuell mit dem GKV-Spitzenverband wegen der Honorierung von pharmazeutischen Dienstleistungen. Im ersten Schritt wird das Diabetes-Konzept sicher nicht berücksichtigt, aber wir hoffen, dass in einem bis zwei Jahren auch über strukturierte Präventionsprogramme gesprochen wird. Die Krankenkassen müssen den enormen Nutzen der präventiven Betreuung noch erkennen. Die wissenschaftliche Evidenz dafür liegt vor.

Friedland: In der Prävention ist in Deutschland noch viel Luft nach oben. Wir müssen viel stärker auf Prävention setzen, gerade im Bereich Diabetes. Ihr niederschwelliger Zugang zu Kunden und Patienten prädestiniert die Apotheker zu dieser Leistung.

PZ: Ihr Wunsch für die nächsten Jahre?

Friedland: Ich hoffe sehr, dass es einen Schub gibt für pharmazeutische Dienstleistungen und Präventionsprogramme. Apotheker arbeiten hoch motiviert und mit viel Herzblut daran.

Schlager: Für das WIPIG ist es ein großes Anliegen, dass die Präventivarbeit der Apotheker von Gesellschaft, Politik und Krankenkassen anerkannt wird. Wir sind happy, dass wir mit drei wissenschaftlichen Studien zeigen konnten, was unsere Apotheken leisten.

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