Antidepressiva bei Schmerzen nur begrenzt wirksam |
Annette Rößler |
03.02.2023 15:01 Uhr |
Chronische Rückenschmerzen haben oft eine komplexe Genese. Sie gehören zu den wenigen Indikationen, bei denen laut einer aktuellen Metaanalyse ein Antidepressivum zur Schmerzlinderung hilfreich sein kann. / Foto: Getty Images/gilaxia
Antidepressiva gehören in Deutschland und vielen anderen Ländern zu den verordnungsstärksten Arzneistoffklassen. Daher hat die PZ mit den Trizyklika Amitriptylin und Opipramol, dem Tetrazyklikum Mirtazapin, dem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Citalopram und dem selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) Venlafaxin schon diverse Antidepressiva im Rahmen der Serie »Arzneistoff-Steckbriefe« vorgestellt. Die Verordnungshäufigkeit nimmt seit Jahren zu; in den OECD-Staaten habe sich der Einsatz von Antidepressiva zwischen den Jahren 2000 und 2015 verdoppelt, schreibt ein Team um Dr. Giovanni Ferreira von der University of Sydney in Australien jetzt im Fachjournal »BMJ«.
Als einen Treiber dieser Entwicklung sehen die Autoren den weit verbreiteten Off-Label-Einsatz von Antidepressiva bei häufigen Schmerzzuständen wie Fibromyalgie, chronischem Kopfschmerz und Arthritis. In Großbritannien habe sich etwa das National Institute for Health and Care Excellence (NICE), das dafür bekannt ist, streng evidenzbasiert zu arbeiten, 2021 in einem Leitfaden gegen den Einsatz jeglicher Schmerzmittel bei chronischen Schmerzen ausgesprochen – einzige Ausnahme: Antidepressiva.
Die Autoren um Ferreira überprüften die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen, indem sie zwischen 2012 und 2022 publizierte systematische Übersichtsarbeiten zu dieser Fragestellung erneut auswerteten. Insgesamt schlossen sie 26 Reviews über 156 Einzelstudien mit mehr als 25.000 Teilnehmern ein. Diese Arbeiten umfassten placebokontrollierte Vergleiche von Antidepressiva aus acht Wirkstoffklassen bei 22 verschiedenen Schmerzzuständen, wobei fast die Hälfte der Studien (45 Prozent) industriegesponsort war. Die Forscher quantifizierten das Ausmaß der Schmerzlinderung anhand einer Skala von 0 (kein Schmerz) bis 100 (stärkster vorstellbarer Schmerz) und berücksichtigten bei der Auswertung auch die Dosis, die Behandlungsdauer und die Anzahl der Studien beziehungsweise Studienteilnehmer.
Wie die Gruppe berichtet, habe eine schmerzlindernde Wirkung von Antidepressiva bei keiner einzigen Schmerzerkrankung mit hoher Sicherheit gezeigt werden können. Neun Reviews hätten allerdings Belege dafür geliefert, dass SNRI bei bestimmten Erkrankungen wirksamer seien als Placebo. Mit moderater Sicherheit gelte das für Duloxetin bei chronischen Rückenschmerzen (Schmerzlinderung um durchschnittlich 5,3 Punkte), Duloxetin oder Venlafaxin bei postoperativen Schmerzen (-7,3 Punkte), Duloxetin oder Milnacipran bei Fibromyalgie (Wahrscheinlichkeit für eine mindestens 50-prozentige Schmerzlinderung um 40 Prozent erhöht) sowie Duloxetin, Milnacipran, Venlafaxin oder Desvenlafaxin bei neuropathischem Schmerz (-6,8 Punkte)
Schwache Evidenz gebe es zudem für eine analgetische Wirkung von Antidepressiva bei Schmerzen infolge einer Aromatasehemmer-Therapie bei Brustkrebs (Duloxetin), bei Depression und komorbiden chronischen Schmerzen (Duloxetin, Venlafaxin, Desvenlafaxin, Paroxetin, Fluoxetin, Escitalopram), Kniearthrose (Duloxetin, Milnacipran), Reizdarmsyndrom (Amitriptylin, Nortriptylin, Doxepin, Desipramin), neuropathischem Schmerz (Amitriptylin, Desipramin, Imipramin, Maprotilin, Nortriptylin) und chronischem Spannungskopfschmerz (Amitriptylin).
In allen anderen Reviews seien Antidepressiva entweder nicht wirksam oder die Evidenz widersprüchlich gewesen, kritisieren die Autoren. Auch seien die Angaben zur Sicherheit und Verträglichkeit ungenau gewesen. Vor diesem Hintergrund und auch angesichts der Tatsache, dass die Wirksamkeit nur für einzelne Wirkstoffe und bei wenigen Schmerzzuständen gezeigt werden konnte, mahnen sie einen »nuancierteren Ansatz« an, wenn es um die Verordnung von Antidepressiva zur Linderung von Schmerzen gehe.
In dieselbe Richtung kommentieren die beiden Schmerzmediziner Dr. Cathy Stannard und Colin Wilkinson in einem begleitenden Editorial: Für die meisten Patienten mit chronischen Schmerzen werde eine Behandlung mit einem Antidepressivum eine Enttäuschung darstellen, schreiben sie. Ärzte verordneten diese Medikamente, weil sie sähen, dass manche Patienten darauf ansprächen, wenn auch nur moderat. Diese Praxis sei zwar nachvollziehbar, sie verhindere aber, dass andere Ansätze mit gut belegter Wirksamkeit und weniger potenziellen Nebenwirkungen angewendet würden, etwa Bewegungsprogramme und Unterstützung bei eingeschränkter Mobilität und sozialer Isolation. Was Schmerzpatienten vor allem bräuchten, seien einfühlsame Ärzte, zu denen sie ein stabiles Vertrauensverhältnis aufbauen könnten.
In einem solchen idealen Setting können aber dann auch Antidepressiva bei Schmerzpatienten sinnvoll eingesetzt werden, betonte Privatdozent Dr. Michael Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, gegenüber der »Berliner Zeitung«. Antidepressiva seien keine Schmerzmittel, sondern Koanalgetika, stellte er klar. Kein Schmerzmediziner verordne in Deutschland Antidepressiva als reine Schmerzmittel.
Allerdings hätten chronische Schmerzerkrankungen oft komplexe Verläufe und eine depressive Symptomatik könne die Schmerzen verstärken, was dann wiederum auf die Stimmung schlage. Oft halte die Schmerzsymptomatik an, auch wenn die körperliche Ursache schon längst verschwunden sei. »Antidepressiva können dabei helfen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen«, so Überall.