Abschalten und mal nicht ganz Ohr sein |
Bringt eine eingeleitete Cortisol-Therapie keine Besserung des Hörvermögens, dann kann leitliniengerecht die Steroidgabe auch direkt in das Mittelohr (»intratympanal«) erfolgen. »Das klingt zwar recht brutal. Aber dazu wird das Trommelfell lokal betäubt und Cortisol direkt in das Mittelohr gespritzt. Das Loch ist nach wenigen Stunden wieder zugewachsen. Der Patient muss dabei eine Zeit lang auf der Seite liegen, damit die Lokalbehandlung einwirken kann. Auf diese Weise diffundiert Cortisol in einer recht hohen Dosis ins Innenohr und wir vermeiden nennenswerte systemische Nebenwirkungen.« Derzeit gilt die intratympanale Applikation eher als Reservetherapie, doch laut Hesse wird sie bei der gerade in Überarbeitung befindlichen Leitlinie eine Aufwertung erfahren.
Wird es irgendwann eine pharmakotherapeutische Therapie gegen die Ohrgeräusche geben? »Im Hinblick darauf, dass man den einen Schalter findet, der den Tinnitus abschaltet, bin ich sehr skeptisch. Forschungsansätze beschäftigen sich zwar mit Stammzellen oder Gentransfer, um untergegangene Haarzellen zu ersetzen. Aber im Grunde haben wir bislang nicht den geringsten Ansatz. Wir können zwar heute schon Haarzellen im Reagenzglas nachwachsen lassen, aber wir bekommen sie nicht ins Ohr. Bei Öffnung des Ohres wäre der Betroffene sofort taub. Außerdem müssten die winzig kleinen, nur elektronenmikroskopisch sichtbaren Haarzellen genau dort implantiert werden, wo sie auch fehlen. Das ginge am ehesten bei einem komplett Tauben«, konstatiert Hesse.
»Bis es so weit ist, besteht die Behandlung des chronischen, also länger als sechs Monate bestehenden Tinnitus in einer Habituationstherapie, bei der Maßnahmen der Hörverarbeitung genutzt werden, um den Tinnitus in den Hintergrund zu drängen beziehungsweise ihn ganz aus der Wahrnehmung zu nehmen. Das heißt, bei einer Therapie muss die Filterfähigkeit des Gehirns wieder trainiert werden. Wir sollten herausfinden, warum diese beim einen sehr gut funktioniert und beim anderen gar nicht. Das hat etwas mit der Psyche, der Emotionalität, der Verarbeitung und Akzentuierung zu tun.«
Aufgrund der psychischen Komponente des Tinnitus liegt es nahe, dass bei Tinnitus-Patienten vermehrt psychische Grunderkrankungen vorliegen. »Die Mehrheit der Betroffenen, die unter ihren Ohrgeräuschen leiden und nach einer Odyssee bei uns in der Klinik landen, haben einen deutlich depressiven oder angstorientierten Hintergrund. Depressionen und Angststörungen sind die beiden Hauptkomorbiditäten. Aber auch hier gilt wieder: Das ist den Patienten nicht unbedingt bewusst«, berichtet der Facharzt aus Erfahrung. Es ist bislang unklar, ob etwa eine Depression ein möglicher Risikofaktor für die Entwicklung eines Tinnitus ist oder die Depression eine Folge der unzureichenden Habituation an die Tinnitus-Symptomatik ist. Bekannt ist dagegen, dass belastende Ohrgeräusche bei prädisponierten Patienten zum Ausbruch einer Depression oder bei einer solchen Grunderkrankung zur Verschlechterung führen können.
Für die Therapie des chronischen Tinnitus bedeutet das: Eine medikamentöse Behandlung für lang andauernde Ohrgeräusche ist abzulehnen, kein Arzneimittel hat ansatzweise den Beleg einer Wirkung gezeigt. Bestehen allerdings (psychosomatische) Begleiterkrankungen wie Depressionen, Schlafstörungen oder Angsterkrankungen, zeigen Psychopharmaka gute Effekte. Darin sind sich die Leitlinienautoren sowohl der deutschen S3-Leitlinie »Chronischer Tinnitus« von 2015 und der multidisziplinären europäischen Leitlinie von 2019 einig. Psychopharmaka bringen Effekte, »weil sie die negative Aufmerksamkeit, die der Tinnitus bekommt, angehen«, erklärt Hesse.
Unter den verschiedenen Habituationstherapien hat die kognitive Verhaltenstherapie den aktuell stärksten Empfehlungsgrad. Dabei handelt es sich um einen multimodalen Ansatz, der unterschiedliche psychologische Techniken kombiniert. Ziel ist die Reduzierung negativer Denk- und Verhaltensweisen. Das Hauptprinzip besteht vor allem in einer Konfrontation und Angstvermeidung. Hierbei soll der Patient lernen, dass seine Ohrgeräusche kein Alarmsignal sind, das eine Aktivierung des Sympathikus zur Folge hat und somit Stress, erhöhte Alarmbereitschaft und Nachlassen kognitiver Kapazitäten auslöst. »Durch die Adaptation an das Tinnitus-Geräusch und zusätzliche Entspannungsmethoden gelingt es relativ gut, den Patienten aus dem Teufelskreis herauszuholen. Doch die Verhaltenstherapie hat den Nachteil, dass die Besserungen nicht unbedingt sehr lange anhalten. Ereignet sich im Leben der Betroffenen etwas Einschneidendes, kann sich der Schweregrad des Tinnitus wieder verschlechtern«, weiß Hesse aus Erfahrung.
Tinnitus-Fachkliniken wie etwa in Bad Arolsen oder an der Berliner Charité kombinierten die kognitive Verhaltens- mit der Retraining-Therapie, wobei das Gehirn auf die ständigen Reize trainiert werden soll. Auch hier sei das Ziel, dass die ständigen Signale im Gehirn keine Aktivierung des limbischen Systems und somit des Sympathikus auslösen. Die klassische Sound-Therapie etwa mit Maskern oder Noisern habe laut Hesse heute nur noch wenig Bedeutung.
»Natürlich ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapie die akustische Stimulation, und zwar bei bestehendem Hörverlust mit einem Hörgerät. Nur in Sonderfällen kombinieren wir das Hörgerät mit Rauschtönen oder Noisern. Denn das wäre quasi wie Gas und Bremse gleichzeitig. Einerseits verstärkt das Hörgerät die fehlenden Töne, andererseits behindert man diesen Prozess mit einem Zusatzrauschen. Die Erfahrung zeigt, dass viele Patienten das Störgeräusch nur dann zuschalten, wenn sie für sich allein in Ruhe sind. Aber dann könnten sie auch Musik hören.«