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Nach einem Verlust

Ab wann ist Trauer krankhaft?

Trauer zu empfinden, wenn ein nahestehender Mensch gestorben ist, ist völlig normal. Doch wie lange? Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Länger? Experten sind uneinig darüber, ab wann anhaltende Trauer als psychische Krankheit zu sehen ist – obwohl es mittlerweile sogar zwei offizielle Definitionen gibt.
Annette Mende
19.12.2019  11:00 Uhr

»Die Frage, ob Trauer eine Krankheit sein kann, wurde und wird sehr leidenschaftlich diskutiert«, sagte Professor Dr. Birgit Wagner von der Medical School Berlin beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. Nachdem Anfang der 1990er-Jahre in der psychologischen Fachwelt erstmals von einer pathologischen Form der Trauer die Rede gewesen sei, habe das Konzept eine bewegte Geschichte hinter sich, im Laufe derer es mehrfach umbenannt wurde. Pathologisch, traumatisch, kompliziert: All diese Attribute hatte die krankhafte Trauer bereits.

Als »persistierende komplexe Trauerstörung« fand sie schließlich 2013 Eingang in das psychiatrische Klassifikationssystem DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). »Allerdings nur als Forschungsdiagnose, weil man sich nicht einig war, dass Trauer überhaupt pathologisch sein kann«, betonte die Psychologin. Das DSM-5 listet verschiedene Kriterien auf, darunter emotionaler Schmerz, gedankliches Verhaften, Verlangen und Sehnsucht nach der gestorbenen Person, aber auch emotionale Taubheit, Nachsterbewunsch und Infragestellen der eigenen Rolle. Von diesen muss zur Diagnosestellung eine festgelegte Anzahl erfüllt sein. Zudem muss die Trauer, um laut DSM-5 Krankheitswert zu haben, länger als zwölf Monate dauern, das soziale und berufliche Leben des Betroffenen beeinträchtigen und über das Normalmaß hinausgehen – was auch immer darunter zu verstehen ist.

Genau hier liege ein Kritikpunkt an der Trauerstörung als klinische Diagnose, wie Wagner ausführte. Denn auch die normale Trauer könne bei Subgruppen länger dauern und intensiver verlaufen als bei der Mehrheit der Trauernden. So zeigten etwa Eltern nach dem Verlust eines Kindes oder Geschwister nach dem Tod einer Schwester oder eines Bruders häufig eine sehr starke Trauerreaktion. Auch mehrfache Verluste innerhalb kurzer Zeit oder ein plötzlicher, unerwarteter Tod, ein Suizid oder traumatischer Tod sowie unerfüllte Wünsche, Schuldgefühle oder ungelöste Konflikte mit dem Verstorbenen seien Risikofaktoren.

Durch die Diagnose bestehe die Gefahr der Pathologisierung der Trauer und einer Stigmatisierung der Betroffenen als »psychisch krank«, so Wagner. Auf der anderen Seite habe die Einstufung als Krankheit auch Vorteile, denn Betroffene könnten so früher und besser identifiziert und Hilfsangebote verbessert werden. Zudem erfolge eine Anerkennung durch das Gesundheitssystem, indem etwa eine Krankschreibung aufgrund von Trauer möglich werde, und die Forschung rund um das Thema werde ausgeweitet.

Der Punkt, an dem sich die meisten Kritiker stören, ist laut Wagner das Zeitkriterium. Dieses ist in der Neufassung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11), die die Weltgesundheitsorganisation dieses Jahr beschlossen hat, sogar noch kürzer bemessen als im DSM-5. Laut ICD-11, die am 1. Januar 2022 in Kraft treten wird, kann die Diagnose »anhaltende Trauerstörung« sogar bereits sechs Monate nach dem Verlust gestellt werden. Diesen Zeitraum halte eine Mehrheit des psychologischen Fachpersonals für zu kurz, wie eine Umfrage mit mehr als 2000 Teilnehmern gezeigt habe, berichtete Wagner.

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