Dominiert die Trauer um einen lieben Menschen auch nach mehr als einem Jahr noch die Gedanken eines Hinterbliebenen, liegt möglicherweise eine persistierende komplexe Trauerstörung vor. / Foto: Fotolia/photophonie
»Die Frage, ob Trauer eine Krankheit sein kann, wurde und wird sehr leidenschaftlich diskutiert«, sagte Professor Dr. Birgit Wagner von der Medical School Berlin beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. Nachdem Anfang der 1990er-Jahre in der psychologischen Fachwelt erstmals von einer pathologischen Form der Trauer die Rede gewesen sei, habe das Konzept eine bewegte Geschichte hinter sich, im Laufe derer es mehrfach umbenannt wurde. Pathologisch, traumatisch, kompliziert: All diese Attribute hatte die krankhafte Trauer bereits.
Als »persistierende komplexe Trauerstörung« fand sie schließlich 2013 Eingang in das psychiatrische Klassifikationssystem DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). »Allerdings nur als Forschungsdiagnose, weil man sich nicht einig war, dass Trauer überhaupt pathologisch sein kann«, betonte die Psychologin. Das DSM-5 listet verschiedene Kriterien auf, darunter emotionaler Schmerz, gedankliches Verhaften, Verlangen und Sehnsucht nach der gestorbenen Person, aber auch emotionale Taubheit, Nachsterbewunsch und Infragestellen der eigenen Rolle. Von diesen muss zur Diagnosestellung eine festgelegte Anzahl erfüllt sein. Zudem muss die Trauer, um laut DSM-5 Krankheitswert zu haben, länger als zwölf Monate dauern, das soziale und berufliche Leben des Betroffenen beeinträchtigen und über das Normalmaß hinausgehen – was auch immer darunter zu verstehen ist.
Genau hier liege ein Kritikpunkt an der Trauerstörung als klinische Diagnose, wie Wagner ausführte. Denn auch die normale Trauer könne bei Subgruppen länger dauern und intensiver verlaufen als bei der Mehrheit der Trauernden. So zeigten etwa Eltern nach dem Verlust eines Kindes oder Geschwister nach dem Tod einer Schwester oder eines Bruders häufig eine sehr starke Trauerreaktion. Auch mehrfache Verluste innerhalb kurzer Zeit oder ein plötzlicher, unerwarteter Tod, ein Suizid oder traumatischer Tod sowie unerfüllte Wünsche, Schuldgefühle oder ungelöste Konflikte mit dem Verstorbenen seien Risikofaktoren.
Kinder sind mit ihrer Trauer um ein Geschwister oft allein, denn die Eltern trauern selbst und sind deshalb meist emotional schwer nahbar. / Foto: Fotolia/altanaka
Durch die Diagnose bestehe die Gefahr der Pathologisierung der Trauer und einer Stigmatisierung der Betroffenen als »psychisch krank«, so Wagner. Auf der anderen Seite habe die Einstufung als Krankheit auch Vorteile, denn Betroffene könnten so früher und besser identifiziert und Hilfsangebote verbessert werden. Zudem erfolge eine Anerkennung durch das Gesundheitssystem, indem etwa eine Krankschreibung aufgrund von Trauer möglich werde, und die Forschung rund um das Thema werde ausgeweitet.
Der Punkt, an dem sich die meisten Kritiker stören, ist laut Wagner das Zeitkriterium. Dieses ist in der Neufassung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11), die die Weltgesundheitsorganisation dieses Jahr beschlossen hat, sogar noch kürzer bemessen als im DSM-5. Laut ICD-11, die am 1. Januar 2022 in Kraft treten wird, kann die Diagnose »anhaltende Trauerstörung« sogar bereits sechs Monate nach dem Verlust gestellt werden. Diesen Zeitraum halte eine Mehrheit des psychologischen Fachpersonals für zu kurz, wie eine Umfrage mit mehr als 2000 Teilnehmern gezeigt habe, berichtete Wagner.
Um eine überstarke beziehungsweise überlange Trauer von einer angemessenen Reaktion auf einen Verlust abzugrenzen, ist es wichtig zu beschreiben, was überhaupt eine normale Trauer ist. Hierzu gibt es verschiedene Theorien, deren bekannteste das Phasenmodell nach Elisabeth Kübler-Ross ist. »Es besagt, dass ein Trauernder die fünf Phasen Nicht-wahrhaben-Wollen, Wut, Feilschen, Depression und schließlich Akzeptanz hintereinander durcharbeiten muss, bevor er das nächste Stadium erreichen kann«, erklärte Wagner. Die Psychiaterin Kübler-Ross habe das Modell in den 1970er-Jahren anhand von Interviews mit sterbenden Menschen aufgestellt. »Sie hat diesen Prozess mit den Hinterbliebenen nicht noch einmal wiederholt, sondern die Phasen aus eigenen Beobachtungen heraus auf Trauernde übertragen.«
Mittlerweile ist das Kübler-Rosssche Phasenmodell empirisch wiederlegt. »Man kann sagen, dass es diese Stadien so nicht gibt«, sagte Wagner. Es gebe zwar die von Kübler-Ross beschriebenen Symptomcluster, diese würden aber nicht nacheinander durchlaufen, sondern überlappten etwa zwischen dem vierten und zwölften Monat nach dem Verlust mit einem Höhepunkt im sechsten Monat. Es sei wichtig, dass dieses doch sehr alte Modell aus der Trauerbegleitung verschwinde, denn »viele Trauernde kennen es und fragen sich, ob ihre Reaktion normal ist«, so die Referentin.
Aus Sicht der Psychoedukation viel sinnvoller sei das Aufgabenmodell nach William Worden aus dem Jahr 1991. »Es geht davon aus, dass die trauernde Person verschiedene Aufgaben zu durchleben hat. Manchmal sind alle Aufgaben gleichzeitig vorhanden, manchmal nacheinander«, erklärte Wagner. Im Einzelnen gelte es für den Trauernden gemäß diesem Modell, dem Verstorbenem einen neuen Platz zu geben, den Verlust als Realität zu akzeptieren, Trauerschmerz zu erfahren beziehungsweise Trauergefühle zu durchleben und sich selbst ohne die verstorbene Person an die Umwelt anzupassen.
»Den Verlust als Realität zu akzeptieren, ist beispielsweise eine Aufgabe, die zwölf Monate dauern kann«, sagte Wagner. So lange könne das Gefühl anhalten, dass der Verstorbene noch nicht ganz weg ist und vielleicht wiederkommt. Diese Trauerarbeit müsse der Betroffene leisten, »die kann man auch nicht wegtherapieren«.
Als drittes Modell nannte die Expertin das duale Prozessmodell von Margaret Strobe und Henk Schut aus dem Jahr 2001. Diesem zufolge gebe es zwei Seiten der Trauer, eine verlustorientierte und eine wiederherstellungsorientierte. Das Modell besage, dass Trauer ein oszillierender Prozess ist, der sich zwischen diesen beiden Kategorien immer hin und her bewegt. Diese Wechsel könnten innerhalb eines Tages, aber auch innerhalb von Wochen und Monaten erfolgen.
Trauer ist nicht nur emotional eine starke Belastung, sondern auch körperlich. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, kann einem das buchstäblich das Herz brechen. »Trauernde haben ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen, das wurde mittlerweile in vielen Studien gezeigt«, sagte Professor Dr. Rita Rosner von der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt beim DGPPN-Kongress in Berlin. So sei etwa in den ersten 24 Stunden nach einem Verlust das Risiko für einen Herzinfarkt 21-fach erhöht (»Circulation« 2012). Auch das Immunsystem von Trauernden sei beeinträchtigt und sie hätten eine erhöhte Sterblichkeit. Alle Studien zu den somatischen Auswirkungen der Trauer seien jedoch relativ kurz nach dem Verlust und nicht mit Patienten mit anhaltender Trauerstörung gemacht worden.