Zwist um Cholera-Cocktail |
Der Bakteriologe Robert Koch (1843-1910) las gern. Doch nicht unbedingt die Publikationen von Max von Pettenkofer. / © Picture Alliance/akg-images
Am 29. April 1884 machte Robert Koch (1843-1910) auf der Rückreise seiner Cholera-Expedition nach Ägypten und Indien auch in München bei Max von Pettenkofer (1818-1901) halt. Letzterer galt damals als weltweit führender Cholera-Experte und war zudem erster Inhaber eines Lehrstuhls für Hygiene.
Einen Monat später wurde Kochs Entdeckung des Cholera-Erregers als nationaler Sieg über Frankreich überhöht und er erhielt in Berlin den kaiserlichen Orden samt einer 100.000-Mark-Prämie. Pettenkofer, der sich bei Koch freundlich erkundigte, inwieweit Koch aus Pettenkofers früheren Cholera-Forschungen hätte Nutzen ziehen können, erhielt eine forsche Antwort. Koch betonte, dass er sich nicht mit Theorien, sondern ausschließlich mit Tatsachen befasse. Und zum Studium von Pettenkofers Publikationen hätte ihm schlichtweg die Zeit gefehlt.
Seither galt das Verhältnis der beiden als zerrüttet, wobei Pettenkofer die Entdeckungen Kochs durchaus zu schätzen wusste, sich nur dagegen wehrte, als »Gegner der bakteriologischen Forschung« betrachtet zu werden. »Ich denke im Gegentheil sehr hoch davon […]; ich wende mich nur gegen die voreiligen Schlussfolgerungen, welche viele Bakteriologen aus ihren bisherigen Untersuchungen ziehen«, betonte er seinerzeit.
Damit spielte Pettenkofer auf die Haltung der Kochianer an, eine ultimative Seuchenbekämpfungsstrategie zu propagierten, die Grenzschließungen, Quarantäne und Ausgangssperren beinhaltete. Im Gegensatz dazu sprach sich Pettenkofer entschieden gegen die Einschränkung des öffentlichen Lebens aus: »Der freie Verkehr ist ein so großes Gut, dass wir es nicht entbehren könnten, selbst um den Preis nicht, dass wir von Cholera und noch vielen anderen Krankheiten verschont blieben.«
Pettenkofer war überzeugt davon, dass für eine Infektionskrankheit drei Faktoren ausschlaggebend seien. Und zwar das spezifische Bakterium, die Disposition des individuellen Menschen sowie die lokalen Bedingungen wie Bodenbeschaffenheit oder bauliche Bedingungen. Diese Auffassung ließ ihn jene Maßnahmen ablehnen, die allein auf Kontrolle oder Verbote des Verkehrs von Waren und Menschen abzielten.
Max von Pettenkofer (1818-1901), erster deutscher Professor für Hygiene. / © Imago Images/Heinz Gebhardt
Obwohl sein lokalistischer Ansatz («Miasma«-Theorie) inzwischen nicht mehr zum Tragen kommt, wird seine umfassende Perspektive bis heute gewürdigt. Etwa vom Pettenkofer-Biografen Wolfgang Locher, der 2018 schrieb: »Auch wenn Pettenkofer mit seiner Choleratheorie falsch lag, so hat er zur Seuchenbekämpfung doch das Richtige vorgeschlagen. Sein Plädoyer für einen sauberen Boden und eine saubere Umwelt führte in zahlreichen Städten zum Ausbau einer modernen wasserwirtschaftlichen Infrastruktur. […] Städte wie München, Lübeck, Halle und Danzig waren unter den ersten, die seinem Ruf nach sauberen Städten folgten und sanitäre Reformen einläuteten.«
Zum Hintergrund: Pettenkofer führte vielerlei Experimente mit Kleidung, Heizung, Lüftung, Kanalisation durch und leitetet daraus Ergebnisse für die soziale Hygiene und Gesundheitstechnik ab, die schließlich auch bei der Sanierung der Stadt München zum Einsatz kamen. München verdankt ihm also die zentrale Trinkwasserversorgung und die Kanalisation und galt Ende des 19. Jahrhunderts als eine der saubersten Städte Europas.
Pettenkofer war der kontagionistische Ansatz der Kochianer nach wie vor ein Dorn im Auge. Er wollte die Irrlehre, die sie in seinen Augen war, entlarven. Dafür inszenierte er dramaturgisch einen Beweis – immerhin hatte er sich vor seiner akademischen Karriere schon als Dichter, Sänger und Schauspieler versucht. Und so machte er einen Selbstversuch und trank vor Zeugen ein ganzes Glas mit eigens aus Berlin in Robert Kochs Institut bestellten Cholera-Bakterien. Wie er bereits vorausgesagt hatte, erkrankte er nicht ernstlich, sondern hatte nur ein paar Tage »starkes Kollern« im Gedärm. Über die Tage nach der Einnahme der Cholera-Bakterien hatte er akribisch Buch geführt:
»Um 11 Uhr wieder Stuhlgang, Consistenz und Farbe wie um 7! Uhr. Das Gurren dauerte an. — Um 1 Uhr ass ich ausserhalb meiner Wohnung bei Verwandten Grünkernsuppe, Hühnerragout mit Pasteten, Salzburger Nockerln, Rindsfiletbraten mit Kartoffeln und Selleriesalat, Maccaroni, 1 Salzstängelchen, Trauben, Mokkakaffee und trank 2 Glas Rüdesheimer Weisswein und 4 Glas Champagner.«
Dieses Experiment trieb die Koch-Jünger offensichtlich in die Defensive: Sie erfanden unterschiedlichste Erklärungen, um Pettenkofers Selbstversuch zu entkräften. Eine Widerlegungsbemühung behauptete gar, Koch habe Pettenkofers Absicht schon geahnt und deshalb extra harmlose Bazillen geschickt. Andere sagen, Pettenkofer sei aufgrund einer früheren Cholera-Erkrankung immun gewesen oder einer seiner Studenten hätte den Cholera-Cocktail als Vorsichtsmaßnahme vorab abgekocht. Andere bemühten psychosomatische Erklärungsversuche, wie Pettenkofer sei aufgeregt gewesen, weshalb eine Überproduktion von Magensäure die Wirksamkeit der Erreger vermindert hätte. Der britische Historiker Richard Evans rubriziert das Ereignis von 1892 hämisch als »Pettenkofers letztes Gefecht«.
Das letzte Gefecht dieses Mannes fand dann tatsächlich knapp 10 Jahre später statt, als der alt gewordene und inzwischen schwer Erkrankte seinem Leiden mit einem Revolver ein Ende setzen wollte – doch die Waffe versagte. Aber Pettenkofers Entschluss stand fest. Und so ging er am 9. Februar 1901 von seiner Dachstube in der königlichen Residenz die Stiegen hinunter zur Straße, um sich einen neuen Revolver zu kaufen. Gegen 23 Uhr hörte man den tödlichen Schuss.
Heiner Barz: Robert Koch jenseits des Mythos. Die Argumente seiner Kritiker in Originaltexten, Springer Nature 2025, 197 Seiten, ISBN 978-3-662-70354-0, EUR 22,99.
Professor Dr. Heiner Barz ist Bildungsforscher am Institut für Sozialwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte sind Themen an der Schnittstelle von Bildung, Gesundheit und Medizin.