Wenn Demenzpatienten vergessen zu essen |
Daniela Hüttemann |
14.02.2023 14:30 Uhr |
Möglichst eigenständig, zu regelmäßigen Zeiten und in Gesellschaft zu essen, ist das Ziel auch für Demenzpatienten. Ein bunt gedeckter Tisch und Lieblingsgerichte aus der Kindheit helfen, den Appetit anzuregen. / Foto: Getty Images/Jasmin Merdan
»Essen und Trinken bedeuten mehr als nur Nahrungsaufnahme und Sicherung der Nährstoffzufuhr sowie der körperlichen Gesundheit. Es ist ein Stück Lebensqualität, gibt Sicherheit und Orientierung und ist wichtig für das seelische Wohlbefinden – das gilt auch und gerade für Menschen mit Demenz«, stellte die Ökotrophologin Dr. Silke Bauer aus Gengenbach vergangenen Samstag bei einer Online-Fortbildung zum Thema Demenz der Apothekerkammer Hamburg und der Landesgruppe der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) Hamburg klar.
Durch die Demenzerkrankung sei das Risiko für eine Mangelernährung bei den Patienten hoch. Abgesehen vom tatsächlichen Vergessen, ob, wann, was und wie viel man schon gegessen hat, ändere sich das Hunger- und Sättigungsgefühl. Bedeutung und Sinn der Nahrung können verloren gehen, auch die Freude am Essen. Gedanklich und emotional können sich die Patienten, gerade Frauen, wieder in einer früheren Lebensphase befinden, in der sie sich vorrangig um die Versorgung der Familie gekümmert haben und »keine Zeit« für das eigene Essen hatten.
Der Verlust von Alltagsfähigkeiten erschwert zunächst das Einkaufen und Kochen, später zum Beispiel auch den Umgang mit Besteck (Verletzungsrisiko). Viele Demenzpatienten sind unruhig und laufen viel umher; dadurch steigt ihr Energiebedarf (um bis zu 500 bis 1000 Kilokalorien pro Tag!). Auch das Sitzen am Tisch fällt vielen schwer und sie lassen sich leicht ablenken. Verlust oder Veränderung sozialer Kompetenzen erschweren die Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten zusätzlich. Wenn Aggression oder Halluzinationen auftreten, komme oft Misstrauen hinzu. Der Patient lehnt unbekannte Gerichte oder fremde Köche ab. »Man sollte dann nicht beleidigt sein«, so Bauer.
Speisen und Getränke würde teilweise nicht mehr als Essen erkannt oder als gefährlich eingestuft, zum Beispiel hielten manche Patienten grüne Erbsen für giftig oder Petersilie auf dem Gericht für kleine Krabbeltiere. Umgekehrt bestehe die Gefahr, dass Reinigungsmittel als Getränke angesehen werden. Sie sollten daher außerhalb der Reichweite der Erkrankten aufbewahrt werden.
Zudem ist der Geruchsverlust ein typisches Symptom einer Alzheimer-Demenz. Auch der Geschmackssinn kann sich ändern. Schluckstörungen können auftreten, wenn Bereiche im Gehirn, die für das Schlucken zuständig sind, vom Neuronen-Untergang betroffen sind. »Die Nahrungsaufnahme ist für die Betroffenen dann sehr anstrengend«, berichtete Bauer. Anticholinerg wirksame Medikamente, die den Mund austrocknen, können das Problem verschlimmern.
Bei Kau- und Schluckbeschwerden sollte man nicht gleich alles pürieren, vor allem nicht als Einheitsbrei. Man könne es erst einmal mit stückigem Apfelkompott statt passiertem Apfelmus probieren. Gekochtes ist meist leichter zu schlucken als Gebratenes. Saucen und Suppen sind meistens gut, auch Smoothies bieten sich an. »Anreichern mit Fett oder Andicken können das Schlucken erleichtern«, so die Ernährungswissenschaftlerin, zum Beispiel mit einem extra Schuss Sahne in der Suppe.
Krümelige bröselige Lebensmittel eignen sich dagegen nicht, also lieber auf Zwieback, Salzstangen, Toast und Rohkost verzichten, gegebenenfalls auch auf kohlensäurehaltige Getränke. Getränke sollten nicht zu heiß und nicht eiskalt sein. Ein Strohhalm kann das Trinken erleichtern.
Kommt Trink- oder Aufbaunahrung zum Einsatz, sollte bei Schluckbeschwerden auf Amylase-resistente Eigenschaften (auf der Packung angegeben) geachtet werden. Die Amylase im Mund kann sonst die Konsistenz der Trinknahrung so verändern, dass sie schlechter geschluckt werden kann.
Grundsätzlich gelten für Demenzkranke die üblichen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Komorbiditäten wie Adipositas, Diabetes (weniger Zucker, mehr Ballaststoffe), Bluthochdruck (wenig Kochsalz, mehr Kalium) und Fettstoffwechselstörungen (auf günstige Fette achten, wenig Zucker und Alkohol, viele Ballaststoffe) sollten beachtet werden. Weiche, aber ganze Kost sei zu bevorzugen. Es empfehlen sich mehrere kleine Mahlzeiten am Tag.
Die Pflegenden sollten die Teller nicht zu voll beladen, da viele Patienten verinnerlicht haben, dass sie aufessen müssen. Lieber kleinere Portionen anrichten und bei Bedarf nachreichen. Bauers Geheimtipp für zuhause, unterwegs und in Pflegeheimen: Fingerfood mit einer Größe von einem bis zwei Bissen, das gut greifbar, leicht zu kauen und zu schlucken ist. Es darf nicht bröselig oder klebrig sein. Bauer riet beispielsweise zu Pizzastücken, Frikadellen aus Fleisch oder Gemüse, Mini-Muffins süß oder herzhaft, Trockenobst, Käsewürfeln oder kleinen Kuchenstücken.
Demenzpatienten lehnten oft Saures ab und bevorzugten Süßes. Süße Gerichte eignen sich auch als Hauptspeise, zum Beispiel Kaiserschmarrn oder Milchreis. Herzhafte Speisen können gesüßt werden, zum Beispiel Kartoffeleintopf mit Kürbis und Karotten oder Fleischgerichte mit Trockenobst, Apfel oder Ananas.
Um den Appetit zu fördern, lohne sich Biografie-Arbeit. Also den Patienten befragen, was er früher gern gegessen hat, aus welcher Region er kommt, ob er selbst Kochkenntnisse hat, ob religiöse oder ethnische Besonderheiten vorliegen, ob es Hungerphasen (Armut, Krieg) gab. Vielleicht existieren noch alte Familien-Rezeptbücher.
Selbstredend ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr wichtig. Besteht Nährstoffmangel oder Kaloriendefizit, können Gerichte angereichert werden, zum Beispiel mit Nussmus ohne Stücke, Avocadomus, Sahne, Butter, Eiern, Öl, Säften und Maltodextrin. Alternativen sind Trinknahrung, gern in Form von Suppen oder Puddings. Sie sollten geschmacklich nach den Vorlieben des Patienten ausgesucht werden.
Sehr wichtig ist eine ausreichende Proteinzufuhr. »Der Proteinbedarf steigt von 0,8 g pro kg Körpergewicht im Alter von 15 bis 65 Jahren auf 1,0 g für ältere Menschen«, erinnerte Bauer. Hier helfe ein Ernährungsprotokoll, um die aktuelle Proteinmenge zu berechnen und gegebenenfalls zu erhöhen, zum Beispiel Frischkäse zum Marmeladenbrot hinzuzufügen und Obstquark als Zwischenmahlzeit anzubieten. bei Bedarf können die »normalen« Mahlzeiten mit Proteinpulver oder Trink- und Aufbaunahrung angereichert werden.
Ausführliche Informationen zur Ernährung im Alter für Laien und Fachkräfte gibt es auf der Website www.fitimalter-dge.de. Hier gibt es Checklisten, einen Online-Speiseplan-Check, Rezepte, Literaturempfehlungen und Informationsbroschüren zum Download oder zur Bestellung, die Apotheken an Patienten und Angehörige abgeben können.
Auch Omega-3-Fettsäuren gehören zu den kritischen Nährstoffen. Daher sollten mindestens einmal in der Woche Seefisch und täglich Rapsöl, Leinsamen und Walnüsse auf dem Speiseplan stehen. Alternativ zum Seefisch: einmal täglich mindestens 5 g Leinöl. Auch auf ausreichend Vitamin B12 und Ballaststoffe müsse man achten.
Falls Nahrungsergänzungsmittel zum Einsatz kommen, müssen die empfohlene Tageshöchstmengen beachtet und Überdosierungen vermieden werden (Vorsicht bei Kombination verschiedener Mittel inklusive Trinknahrung). Bauer erinnerte auch daran, dass einige Medikamente die Resorption von Nährstoffen mindern. Zum Beispiel sinkt die Aufnahme von Folat und Vitamin B12 unter einer Therapie mit Antidiabetika, Lipidsenkern und Magen-Darm-Therapeutika.
Ein appetitliches Anrichten des Essens hilft viel. Neben einem schön gedeckten Tisch sind farbliche Kontraste wichtig; das gilt für das Essen selbst (also nicht gedämpften Kabeljau auf Reis mit heller Sauce anbieten) sowie für bunte Teller oder Tischsets. Essen kann ansprechend eingefärbt werden, zum Beispiel mit Safran, roter Bete oder Fruchtsaft.
»Generell sollten beim Essen alle Sinne angesprochen werden«, betonte Bauer – über das Hören (beim Tischdecken mit dem Geschirr klappern), Sehen (bunt und hübsch gedeckter Tisch), Riechen (Kaffee kochen, Kuchen backen, Fleisch anbraten), Fühlen (Textur, Fingerfood) und natürlich der Geschmack (kräftig, gut gewürzt oder süß).
Demenzkranke Menschen sollten bei der Planung und Zubereitung sowie bei Tischdecken und -abräumen so gut es geht einbezogen werden. Wichtig seien feste Essenszeiten und Sitzplätze, Rituale wie ein Trinkspruch oder Gebet zum Beginn der Mahlzeit sowie eine ruhige, entspannte und einladende Atmosphäre.
»Menschen mit Demenz können sich nicht anpassen«, so die Ernährungswissenschaftlerin abschließend. »Die Umwelt muss sich im Sinne der Betroffenen mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen anpassen.«