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Genderpharmazie

Warum Frauen mehr Schmerzmittel brauchen als Männer

Gleiche Dosis, dennoch unterschiedliche Effekte bei Mann und Frau? Eine Arzneistoffgruppe, bei der geschlechtsspezifische Unterschiede für die Wirksamkeit relevant sind, sind die Analgetika. Für Professor Dr. Oliver Werz ist »das Geschlecht jedenfalls eine wichtige Variable in der Schmerztherapie«.
Elke Wolf
17.11.2021  18:00 Uhr

»Wir wissen heute, dass Frauen eine deutlich niedrigere Schmerzschwelle und auch eine geringere Schmerztoleranz haben als Männer. Schmerz wird deshalb von Frauen intensiver erlebt. Zudem zeigen sie eine intensivere Immunantwort und Entzündungsreaktionen«, erklärte Professor Dr. Oliver Werz von der Universität Jena am vergangenen Sonntag bei der Zentralen Fortbildung der Landesapothekerkammer Hessen.

Das ist vermutlich die Erklärung, warum die weibliche Bevölkerung im Durchschnitt häufiger Schmerzmittel einnimmt. 85 Prozent der Coxib-Anwender seien weiblichen Geschlechts, nannte der Apotheker ein Beispiel. Frauen scheinen auch für verschiedenste Schmerzsyndrome empfänglicher zu sein. So kommen Migräne, Spannungskopfschmerzen, Reizdarm oder rheumatoide Arthritis bei Frauen häufiger vor als bei Männern. Letztere leiden dagegen häufiger unter Cluster-Kopfschmerz.

Eine mögliche Ursache für die geschlechtsspezifischen Unterschiede sieht Werz in der anders gearteten Verarbeitung von Schmerzen in Gehirn. Während bei Frauen eher Areale der linken Amygdala aktiv werden, also Areale, die dem limbischen System und damit Emotionen zugeordnet werden, findet bei Männern die Schmerzverarbeitung eher in der rechten Amygdala statt, also Regionen, in denen analytische und kognitive Prozesse umgesetzt werden. Freilich sind auch die Sexualhormone an der unterschiedlich empfundenen Schmerzwahrnehmung beteiligt. Während Estradiol eher pronozizeptiv und proinflammatorisch wirkt, sind antinozizeptive und antiinflammatorische Effekte von Testosteron bekannt, informierte der Referent.

Mehr Nebenwirkungen bei Frauen

Als Beispiel für eine unterschiedliche Arzneistoffwirkung nannte der Referent Morphin. »Morphin wirkt bei Frauen stärker analgetisch.« Werz stellte Studien vor, nach denen Männer eine bis zu 50 Prozent höhere Morphin-Dosis brauchen, um einen vergleichbaren schmerzhemmenden Effekt zu erfahren. Oder das Dosierungsintervall müsste verlängert werden. Allerdings zeigten Frauen auch häufiger Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen. Sie würden überdies schneller abhängig und hätten bei einem Entzug mehr Symptome. Den Grund dafür sieht Werz in der unterschiedlichen Lokalisation, Affinität und Dichte der µ-Opioidrezeptoren und der Signalübertragung.

Geschlechtsspezifische Unterschiede gibt es auch in der Pharmakokinetik von Arzneistoffen. Werz nannte Paracetamol als Paradebeispiel. In der analgetischen Wirksamkeit gebe es dagegen keine Unterschiede. Weil die Clearance aufgrund der unterschiedlichen Glucuronidierung bei Frauen geringer ausfällt und Frauen ein kleineres Verteilungsvolumen bieten, werden bei ihnen nach der Einnahme von Paracetamol im Schnitt höhere Plasmaspiegel gemessen. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Toxizität: Eine Überdosierung führt zu irreversiblen Schäden der Leberzellen, weil dann N-Acetyl-p-benzochinonimin gebildet wird. Dieses reagiert mit Proteinen der Leberzellen. Bei Frauen sollte deshalb bei maximal 4 Gramm am Tag Schluss sein, hieß es bei der Online-Fortbildung.

Ein weiteres Beispiel für klinisch relevante geschlechtsspezifische Wirkunterschiede ist die Acetylsalicylsäure. Während ASS 100 mg bei Männern signifikant das Herzinfarkt-Risiko senkt, ist das bei Frauen nicht der Fall. Umgekehrt verhält sich die Sachlage beim Schlaganfall: ASS reduziert das Schlaganfall-Risiko bei Frauen, nicht aber bei Männern. Eine schlüssige Erklärung für dieses Phänomen gebe es bislang noch nicht, informierte der Referent. 

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