Pharmazeutische Zeitung online
Adhärenz

Verstehen, messen, verbessern

Obwohl Fachleute seit Jahren über Therapietreue oder Adhärenz diskutieren, werden Interventionen zur Steigerung der Adhärenz weder in Arztpraxen noch in Apotheken systematisch umgesetzt. Apotheker fokussieren hauptsächlich darauf, mögliche Fehler oder Probleme bei der Arzneimitteltherapie zu entdecken. Tatsächlich ist fehlende Adhärenz einer der wichtigsten Gründe für ein Therapieversagen.
Anna Laven
10.03.2019  08:00 Uhr

In Ländern, in denen Medikamente für den Großteil der Bevölkerung verfügbar sind, kann die Verbesserung der Adhärenz »einen weitaus stärkeren Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung haben als jede Verbesserung einer spezifischen medizinischen Behandlung«, betont die Weltgesundheitsorganisation WHO.

Denn Therapien werden nur dann effektiver, wenn Patienten die richtigen Arzneimittel zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Dosierung für die vorgeschriebene Dauer und ohne unkontrollierte Selbstmedikation einnehmen oder anwenden. Es ist nachvollziehbar, dass dies umso schwieriger ist, je mehr Arzneimittel ein Patient pro Tag anwenden muss.

In Deutschland leiden Patienten über 65 Jahre durchschnittlich an mindestens einer chronischen Erkrankung; viele sollen mehr als fünf Arzneimittel pro Tag einnehmen (1). Darunter leidet zwangsläufig die Adhärenz. International schaffen es trotz Medikation nur 28 Prozent der Patienten mit Diabetes, ihre glykämischen Werte zu kontrollieren, und weniger als 25 Prozent haben einen optimalen Blutdruck (2). Nicht einmal die Hälfte der Patienten mit Vorhofflimmern, die einen Vitamin-K-Antagonisten einnehmen, befinden sich innerhalb der therapeutischen INR-Bereiche (3); 40 Prozent brechen die Therapie nach einem Jahr vollständig ab (4).

Diese unbeständige Adhärenz führt einerseits zu Problemen bezüglich Wirksamkeit, Sicherheit und Resistenzentwicklung. Andererseits begünstigt sie Verordnungskaskaden: Führt die suboptimale Adhärenz zu Therapieversagen und Krankheitsprogression, wird die medikamentöse Therapie häufig eskaliert, was die Adhärenz weiter belastet.

Systematische Betrachtung der Adhärenz

In einem EU-geförderten Projekt (5) wurde 2012 eine neue Taxonomie der Adhärenz entwickelt. Diese berücksichtigt drei Faktoren:

  • Therapiebeginn: Beginnt der Patient seine Therapie oder nicht?
  • Umsetzung der Therapie: Nimmt der Patient seine Arzneimittel zur richtigen Zeit, in der richtigen Menge, ohne Über- und Unterdosierung ein?
  • Persistenz: Hält er die Therapie solange durch wie verordnet?

Diese Einteilung erlaubt, differenzierte Messmethoden entsprechend der Adhärenz-Phasen einzusetzen und das individuelle Muster der Nicht-Adhärenz zielgerichtet zu erkennen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zunächst das genaue individuelle Problem des Patienten herauszufinden (Therapie nicht angefangen, nicht richtig umgesetzt oder zu früh abgebrochen), um dann zu verstehen warum der Patient sich so verhält. In der Folge sind patientenzentrierte, die individuelle Motivation beachtende Interventionen möglich. Die WHO nennt verschiedene Faktoren, die zu mangelnder Adhärenz führen können (Tabelle).

Faktor Adhärenz mindernde Einflüsse
sozio-ökonomisch geringes Gesundheitsverständnis, fehlende soziale Unterstützung, hohe Arzneimittelkosten
therapiebezogen Komplexität des Therapieplans, Nebenwirkungen
patientenbezogen körperliche Beeinträchtigung, zum Beispiel ­von Kognition, Sehvermögen, ­Fingerfertigkeit, psychologisches Verhalten, jüngeres Alter
krankheitsbezogen asymptomatische chronische Krankheit psychische Störung wie Depression
Arzt/Apotheker- oder Gesundheitssystem-bezogen schlechtes Vertrauensverhältnis zum Patienten, schlechte Kommunikation, fehlender Zugang zur Gesundheitsversorgung, Mangel an Kontinuität der Pflege

In einer Untersuchung haben Kardas und Kollegen 2013 mehr als 700 Prädiktoren für schlechte Adhärenz identifiziert (6). Daraus lässt sich ableiten, dass die Förderung der Adhärenz einer individuellen und patientenzentrierten Beratung bedarf. Dafür schlägt die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vier Schritte vor:

  • Anerkennen, dass fehlende Adhärenz die Gesundheit schädigt und die Gesundheitskosten erhöht.
  • Begreifen, dass nur wenige Länder systematisch Adhärenz beobachten.
  • Anreize schaffen, denn finanzielle Unterstützung ist für Heilberufler und Patienten wesentlich.
  • Kontrollieren und unterstützen.

Die OECD sagt ausdrücklich: »Der Adhärenz-Prozess beginnt mit einem Patienten, einem verschreibenden Arzt und einem Apotheker, die alle von anderen Akteuren des Gesundheitssystems unterstützt werden sollten.«

Interventionen zur Adhärenzkontrolle

Interventionen können eingeteilt werden in solche, die dazu geeignet sind, eine optimale Adhärenz anzuleiten, und solche, die überprüfen, ob die Intervention erfolgreich war. Entsprechend der Taxonomie (5) sollten sich diese Interventionen daran ausrichten, ob die Therapie begonnen, umgesetzt oder fortgeführt werden soll.

Zur Erfolgsprüfung sind direkte Methoden wie Pharmakokinetik-Pharmakodynamik-Blutuntersuchungen zwar genau, allerdings im Alltag nicht umsetzbar. Patientenberichte, etwa die Antwort auf die Frage: »Nehmen Sie Ihre Arzneimittel regelmäßig ein?«, sind meist positiv verzerrt, weil Patienten sich oft nicht wirklich erinnern können und auch sozial gefallen möchten. Das gilt auch für das sogenannte Pillenzählen: Soll der Patient alle Arzneiformen von zu Hause mitbringen, kann er die Anzahl leicht manipulieren.

Zuverlässiger zur Erfolgsüberprüfung ist die Kombination von Datenbanken und elektronischem Monitoring.

Die Kombination von Datenbanken, die sowohl über die Verordnung als auch über die Einlösung von Rezepten Auskunft geben, lässt erkennen, ob der Patient das Rezept eingelöst hat. Retrospektiv kann die Persistenz damit bestimmt werden. Eine Untersuchung mit 195 930 elektronischen Rezepten von mehr als 75 000 Patienten hat gezeigt, dass im Schnitt 30 Prozent der Patienten ihre Rezepte nicht einlösen (7). Dazu gehören insbesondere Rezepte zur Behandlung von chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Depression und Asthma, aber auch Antibiotika und Schmerzmittel. Diese Zahlen verdeutlichen, dass das elektronische Rezept vor allem dann nützlich sein wird, wenn Arzt und Apotheker zusammenarbeiten und Daten austauschen.

Die Umsetzung der Therapie kann am besten mit elektronischem Monitoring kontrolliert werden, wobei dies einer Selbstkontrolle gleicht. Das bedeutet, dass der Patient jede Arzneimitteleinnahme dokumentiert. Hierzu werden die Blister oder Applikationshilfen mit einem Zähler versehen. Dadurch wird das individuelle Verhalten sichtbar: Hat der Patient mehr Probleme mit einer abendlichen oder frühmorgendlichen Einnahme? Neigt er dazu, die Tabletten am Wochenende oder im Urlaub wegzulassen?

Nur wenn das Problem klar definiert wird, kann man eine passende Lösung finden. Werden die Patienten mit dem eigenen Verhalten konfrontiert, können Maßnahmen gemeinsam diskutiert werden.

Kommunikativ begleiten

Wichtig ist, dass solche Interventionen kommunikativ unterstützt und dauerhaft implementiert werden sollten, um erfolgreich zu sein. In seinem Bericht 2018 identifiziert der Weltapothekerverband FIP drei Elemente, die immer erfolgreich waren:

  • gute Kommunikation mit Patienten und/oder Pflegern beziehungsweise Familienmitgliedern durch alle Heilberufler, die diesen Patienten versorgen,
  • Vereinfachung der Einnahme von Medikamenten für ältere Patienten und
  • das Bemühen, die Adhärenz dauerhaft aufrechtzuerhalten (8).

Bei der Entscheidungsfindung bevorzugen 79 Prozent der Patienten eine aktive Rolle (9). Die Festlegung gemeinsamer Ziele ist einer der Hauptfaktoren für eine erfolgreiche Intervention (10). Gelingt es dem Heilberufler, den Patienten aktiv einzubeziehen, damit er Mitverantwortung für seine Behandlung übernimmt, benötigt der Patient möglicherweise weitere soziale und familiäre Unterstützung. Studien deuten darauf hin, dass sich auch die Adhärenz verbessert, wenn sich die Lebensumstände verbessern (11). Im Kasten sind Beispiele für Adhärenz-fördernde und -verhindernde Kommunikation aufgeführt.

Für die richtige Einstellung zum Patienten sollte die Fachkraft sich vor Gesprächsbeginn klarmachen, dass das Verhalten eines Patienten sich ergibt aus

seiner Fähigkeit, das erwünschte Verhalten, hier die regelmäßige Arzneimittelanwendung und einen gesunden Lebensstil, herbeizuführen. Es ist sinnvoll, in der Apotheke immer wieder festzustellen, welches Wissen der Patient über seine Therapie hat und dieses gegebenenfalls zu ergänzen. Ebenfalls ist zu prüfen, ob der Patient alleine mit dem Arzneimittel und seiner Applikationsform zurechtkommt;

der Möglichkeit des Patienten, das gewünschte Verhalten in seinem Alltag umzusetzen. Dafür ist häufig nicht der Patient alleine verantwortlich, sondern auch seine berufliche und familiäre Umgebung;

seiner persönlichen Motivation zur Veränderung. Diese gilt es, durch motivierende Gesprächsführung herauszufinden und mit einer Zielvereinbarung zu verstärken.

Strukturierte pharmazeutische Beratung

Aus den WHO-Faktoren für Nicht-Adhärenz kann eine effektive Kommunikation für die Förderung der Adhärenz in der Apotheke abgeleitet werden. Diese Form der Beratung ist leicht in den pharmazeutischen Alltag einzugliedern und ergänzt die Leitlinien der Bundesapothekerkammer zur Beratung in der Selbstmedikation oder bei Erst- und Wiederholungsverordnung. Sie wurde an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf wissenschaftlich validiert (12, 13).

Sie kostet zugegebenermaßen Disziplin in der Bewältigung von Fachwissen und kommunikative Fertigkeiten wie Motivation und Patientenzentrierung, aber nur wenige Minuten zur Umsetzung. Dies kann für ein gezieltes Eingreifen ausreichen, da mehr Zeit allein keine gute Beratung gewährleistet (14).

Schritt 1: Vertrauensbildende Maßnahmen

Vertrauen entsteht durch Treue, Kompetenz, Ehrlichkeit und Vertraulichkeit (15). Der allererste Schritt sollte daher ein gegenseitiges Kennenlernen sein, um sicherzustellen, dass der Patient und die beratende Fachkraft sich namentlich kennen. Daher ist es empfehlenswert, sich jedem Patienten vorzustellen, der den Berater nicht gleich mit dem Namen begrüßt. Ebenso wichtig ist es, den Patienten zu identifizieren: »Ist das Arzneimittel für Sie selber / Sind Sie Frau/Herr ...?«

Dann ist zu prüfen, ob der Patient ein Kundenkonto in der Apotheke hat. Alle Arzneimittel und andere Produkte sind in dieses Konto einzutragen. Wohlgemerkt, kein Familienkonto zum Sammeln von Rabattpunkten, sondern ein individuelles Konto, anhand dessen Medikationsanalysen und Wechselwirkungschecks möglich sind.

Jeder einzelne Kunde der Apotheke sollte ein Kundenkonto haben. Dies gilt auch für Selbstmedikationskunden – schließlich gelten für sie die gleichen Regeln, und auch hier lassen sich Adhärenz oder Nicht-Adhärenz leicht steuern, wenn die zugehörigen Daten vorliegen. Ein weiterer Vorteil ist die Kundenbindung, die für die Existenz einer Apotheke überlebensnotwendig ist.

Schritt 2: Anamnese

Im zweiten Schritt gilt es herauszufinden, »was bisher geschah«. Die Krankengeschichte kann sich von Mal zu Mal ändern, denn derzeit hat die Apotheke (noch) keinen Zugriff auf die Patientenakte. Daher ist der Berater auf die Auskünfte des Patienten angewiesen, was Diagnose und Laborwerte betrifft.

Aus kommunikativer Sicht ist das vielleicht auch gut: Seine Aussagen zeigen auf, was der Patient selbst verstanden hat. Mit Einfühlungsvermögen sollte es gelingen zu erfahren, was er darüber denkt und wie er glaubt, dass seine Therapie verlaufen wird – dies lässt erahnen, wie es um die Adhärenz bestellt ist. Diese Selbsteinschätzung gilt es, aufgeschlossen, nicht wertend und mitfühlend wahrzunehmen und in die Beratung einzubinden.

Fragen in diesem Gesprächsabschnitt sollten sich darauf ausrichten herauszufinden, welche Empfehlungen der behandelnde Arzt ausgesprochen hat und welchen Therapienutzen der Patient erwartet. In der Selbstmedikation gilt es abzuklären, ob deren Grenzen erreicht wurden. Dazu kann man nach der Dauer der Symptome fragen und ärztlich behandlungsbedürftige Indikationen durch geeignete klinische Fragen eruieren.

Schritt 3: Unterstützung für alle Adhärenzphasen

Erst jetzt kann man mit der eigentlichen Information zum Arzneimittel beginnen. In diesem Schritt wird die Fachkraft bei Erstverordnung mehr reden und erklären, und bei Wiederholungsverordnung genau die gleichen Inhalte eher vom Patienten erfragen. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Motivation des Patienten schon bekannt sein. Nun kann mit einer persönlichen, motivationsorientierten Nutzenformulierung begonnen werden.

Es reicht nicht aus, die richtigen Dinge zu sagen – vielmehr müssen diese auch richtig gesagt werden, damit sich der Patient motiviert fühlt. Im Anschluss daran werden die drei wichtigsten Punkte zum Arzneimittel sowie diejenigen Nebenwirkungen erläutert, die der Patient wissen muss, weil er bei ihrem Auftreten selbst aktiv werden muss oder weil er selbst präventiv tätig werden kann.

Schritt 4: Gemeinsame Zielsetzung

Der wichtigste, aber häufig vergessene Schritt für eine strukturierte Beratung ist die gemeinsame Zielsetzung. Dieser Schritt sollte eine kurze Zusammenfassung enthalten, die idealerweise der Patient formuliert. Der Umgang mit Monitoring-Maßnahmen wie Blutdruck- und Blutzuckermessen, Dokumentation oder Auslesen der Arzneimittelverwendung finden nun statt. Es ist wichtig zu betonen, dass Maßnahmen zur Einhaltung der Adhärenz nicht zur Kontrolle der Patienten dienen, sondern um Fehler aufzudecken.

Der Apotheker sollte eher ein partnerschaftliches Verhalten als ein autoritäres an den Tag legen und Wissen, Können und Erfahrung des Patienten respektieren. Das Gespräch endet mit einer neuen Verabredung, die möglichst nicht erst bei der nächsten Verordnung stattfinden sollte.

Fazit

Geht es also nur um Kommunikation? Ja, wenn die Fakten stimmen. Eine knappe patientenzentrierte Beratung in allen Indikationen anbieten zu können, die sich an aktuellen Leitlinien orientiert, erfordert gutes Fachwissen und ständige Fortbildung.

Mit einer patientenorientierten Einstellung und gezielter Kommunikation kann der Apotheker ein mitfühlender Begleiter des Patienten sein. Er sollte berücksichtigen, dass Änderungen, die sich im Leben eines Patienten ergeben, die Adhärenz sofort beeinflussen können, selbst wenn der Patient die Medikamente seit Langem einnimmt. Bei jeder Begegnung sollte, auch wenn sie nur wenige Minuten dauert, eine kurze Intervention und die Überprüfung der Adhärenz in allen drei Phasen erfolgen. /

Mehr von Avoxa