Verfrühter Einsatz kostete Tausende das Leben |
Daniela Hüttemann |
09.01.2024 13:30 Uhr |
Millionenfach ging Hydroxychloroquin im Frühjahr 2020 in den USA über den HV-Tisch – in der Hoffnung auf ein wirksames Mittel gegen Covid-19. / Foto: Getty Images/Liliboas
Kaum hatte man die ersten SARS-CoV-2-Viren isoliert, bekämpfte man sie in Laboren mit dem verfügbaren Arzneistoff-Arsenal – in der Hoffnung, schnell ein Medikament zu finden, das wirkt. Tatsächlich konnte der relativ alte Wirkstoff Hydroxychloroquin (HCQ), der seit Jahrzehnten bei Malaria und Rheuma eingesetzt wird, die virale Replikation hemmen. Zudem fanden Forschende schnell heraus, dass HCQ auch mit der Glykosylierung des Angiotensin-Converting-Enzym 2 (ACE2) interferiert, das SARS-CoV-2-Viren zum Andocken an die menschlichen Zellen nutzen (»Current Pharmacology Reports«, 2020. DOI: 10.1007/s40495-020-00231-8).
Daraufhin wurde Hydroxychloroquin breitflächig angewendet – nicht nur in klinischen Studien, mit denen eine Wirksamkeit – und genauso wichtig: die Sicherheit – bei Covid-19 festgestellt werden sollte, denn der Wirkstoff verlängert unter anderem die QT-Zeit am Herzen. Weltweit stiegen die Verordnungszahlen des Medikaments um ein Vielfaches, zeitweise war es nicht mehr zu bekommen, was auf einen massiven Off-Label-Use hindeutet.
Der damalige US-Präsident hatte das Medikament sehr vorschnell im Mai 2020 als »Game Changer« in der Pandemie bezeichnet und nahm es selbst ein – sogar prophylaktisch. Es kam zu globalen Lieferengpässen, was problematisch für Patienten mit Autoimmunerkrankungen war, die auf Hydroxychloroquin angewiesen sind.
Nach einigen Monaten wurde durch die Ergebnisse der klinischen Studien aber schnell klar, dass das Mittel nicht nur nicht geholfen, sondern es für zusätzliche Todesfälle gesorgt hatte. So zeigte bereits im November 2020 die RECOVERY-Studie, dass die kardiale Mortalität und die Gesamtmortalität unter HCQ-Behandlung stiegen (»New England Journal of Medicine« 2020, DOI: 10.1056/NEJMoa2022926).
Eine aktuelle Metaanalyse von 44 klinischen Studien mit hospitalisierten Covid-19-Patienten während der ersten Coronawelle lässt nun erahnen, wie groß der Schaden ist: Es wurde eine Erhöhung der Mortalität um 11 Prozent ermittelt, wenn die Patienten mit HCQ behandelt wurden. Das berichtet ein Team um Jean-Christophe Lega von der Universität Lyon, Frankreich, im Fachjournal »Biomedicine & Pharmacotherapy« und warnt vor dem verfrühten Einsatz umgewidmeter Arzneimittel (»Repurposing«).
Die Forschenden schätzen, dass allein 16.990 Menschen in sechs Ländern durch die HCQ-Behandlung starben (USA, Spanien, Italien, Türkei, Frankreich, Belgien) – und das sind nur die Patienten, die an diesen 44 klinischen Studien teilnahmen, also in einem überwachten Setting. Wie hoch die tatsächliche Zahl der HCQ-assoziierten Todesfälle bei Covid-19-Patienten weltweit ist, lässt sich kaum abschätzen. In Deutschland wurden dazu keine Zahlen erhoben.
»Obwohl unsere Schätzungen durch ihre Ungenauigkeit begrenzt sind, veranschaulichen diese Ergebnisse die Gefahr des Repurposing von Arzneimitteln mit geringer Evidenz«, so das Fazit der Studienautoren. »Diese Studie veranschaulicht die Grenzen der Extrapolation von Behandlungseffekten bei chronischen bis hin zu schweren Erkrankungen ohne genaue Daten sowie die Notwendigkeit, bei neu auftretenden Krankheiten rasch hochwertige Erkenntnisse aus randomisierten klinischen Studien zu gewinnen.«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.