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Rechtsmedizin

Tote lügen nicht

Rund 30 000 Obduktionen hat Professor Dr. Michael Tsokos bereits geleitet. Nebenbei schreibt der Rechtsmediziner Thriller. Sein Besteller »Zersetzt« ist gerade verfilmt worden. Im Interview mit der PZ spricht Tsokos über die Herausforderungen und Grenzen seines Jobs.
Jennifer Evans
28.11.2018  15:52 Uhr

PZ: Man sagt Gerichtsmedizinern nach, zynische Eigenbrötler zu sein. Trifft das Klischee manchmal zu? Welche Eigenschaften machen Ihrer Ansicht nach einen guten Rechtsmediziner aus?


Tsokos: Zynismus kann man sich angesichts der menschlichen Tragödien, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden, in unserem Beruf nicht leisten. Einen guten Rechtsmediziner zeichnet Flexibilität im Denken, Geradlinigkeit und Objektivität aus.

 

PZ: Wie viele Obduktionen haben Sie bereits durchgeführt? Gibt es so etwas wie Rituale bei Ihrer Arbeit?

Tsokos: Ich habe in meinen bisherigen fast 25 Berufsjahren etwa 30 000 Obduktionen geleitet, die Identifizierungen nach dem Tsunami 2004 nicht mitgerechnet. Rituale gibt es dabei nicht, jeder Fall ist anders und für sich genommen einzigartig.


PZ: Wie viele Mordopfer kommen zu Ihnen in die Rechtsmedizin?

Tsokos: In der Berliner Rechtsmedizin obduzieren wir 2000 Verstorbene pro Jahr, davon etwa 100 bis 110 Tötungsdelikte. Jedes zweite Tötungsdelikt allerdings wird in Deutschland Expertenschätzungen zufolge nicht als solches erkannt.


PZ: Sollte es mehr Obduktionen geben?

Tsokos: Ja, denn nur so können primär unentdeckte Tötungsdelikte erkannt werden, zum Beispiel Tötungsserien in Krankenhäusern oder Altenheimen.


PZ: Können tote Körper ein Spiegel der Gesellschaft sein?

Tsokos: Ich erfahre, auch über die im Anschluss an die Obduktion durchgeführten Laboranalysen, viel über die Lebensgewohnheiten des Betreffenden. Ja, Tote sind ein Spiegel der Gesellschaft. Ihre Geschichten erzählen von Abhängigkeitserkrankungen, Vereinsamung, Freitodabsichten.


PZ: Wie reagieren andere, wenn Sie von Ihrem Beruf erzählen? Was sagen Ihre fünf Kinder dazu?

Tsokos: In der Regel reagieren die Menschen mit großem Interesse, denn wann hat man schon einmal die Möglichkeit, sich mit einem Rechtsmediziner zu unterhalten? In Deutschland mit über 80 Millionen Einwohnern gibt es ja gerade mal 250 von uns Rechtsmedizinern. Meine Kinder finden es spannend, was ich mache. Aber mit den Details meines Berufs konfrontiere ich sie natürlich nicht.


PZ: Mussten Sie lernen, Ihre Fälle nicht mit nach Hause zu nehmen?

Tsokos: Das kann man nicht lernen, man muss dafür gemacht sein. Eine gewisse Robustheit ist einfach unabdingbar in meinem Beruf.


PZ: Was passiert, wenn Sie mal anderer Ansicht sind als die Ermittlungsbehörden? Verfolgen Sie das Ende Ihrer Fälle?

Tsokos: Verschiedene Deutungen von Befunden und Geschehnissen werden mit den Ermittlern besprochen. Am Ende entscheidet immer die Staatsanwaltschaft als Verfahrensherr, wie es mit einem Fall weitergeht.


PZ: Welche TV-Krimi-Serien schauen Sie selbst an und halten Sie mit Blick auf Ihren Beruf für realistisch?

Tsokos: Ich schaue gerne den Tatort, allerdings nicht regelmäßig. Die Darstellung der Rechtsmedizin ist fast nie sehr nahe an der Realität. Ansonsten hat mir die erste Staffel der US-Krimiserie True Detective unheimlich gut gefallen.


PZ: Wo liegen die Grenzen Ihres Berufs – im TV können Rechtsmediziner ja praktisch alles herausfinden?

Tsokos: Wenn ein Mensch bereits kremiert wurde, sind auch wir mit unserem Latein am Ende. Da gehen weder DNA-Analysen noch toxikologische Untersuchungen. Wenn wir einen Leichnam zur Untersuchung haben, ist allerdings wirklich fast alles nachweisbar.


PZ: Ist die deutsche Rechtsmedizin anderen Ländern nach wie vor weit voraus?

Tsokos: Das kann ich guten Gewissens bejahen. Deutschland und Österreich sind quasi die Wiege der modernen Rechtsmedizin.


PZ: Was reizt Sie an Ihrer Arbeit? Haben Sie einen ausgeprägten Sinn für die Wahrheit?

Tsokos: Die Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit, die Suche nach dem entscheidenden Puzzleteil. Was nachher die Wahrheit ist, das legen die Juristen fest.


PZ: Welche Aufgabe war bislang Ihre härteste und hat womöglich Ihren Blick aufs Leben verändert?

Tsokos: Meine vier Wochen in Thailand, direkt nach dem verheerenden Tsunami Ende 2004, waren etwas Besonderes. Zehntausende Tote, die wir zu identifizieren hatten. Und das ohne das dafür notwendige Setting: keine Sektionssäle, keine Sektionstische. Das war eine riesige Herausforderung, die wir zu bewältigen hatten. Mein Blick auf das Leben hat sich durch meine Arbeit natürlich verändert. Ich schätze die glücklichen Zeiten mit der Familie sehr, weil ich weiß, dass alles endlich ist.


PZ: Was entgegnen Sie Kritikern, die behaupten, dass Sie Ihre Fälle medial ausschlachten?

Tsokos: Denen entgegne ich, dass eine breitere Öffentlichkeit erst durch die realistische mediale Darstellung der Rechtsmedizin überhaupt davon erfahren hat, was moderne Rechtsmedizin für die Rechtssicherheit in einer Demokratie leistet. 

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