Suchtverhalten stärker berücksichtigen |
Daniela Hüttemann |
31.01.2019 08:00 Uhr |
Forscher vermuten, dass bei einem unkontrollierbaren Wunsch nach stark zuckerhaltigen Lebensmitteln wie Schokolade ähnliche Mechanismen greifen wie bei einer klassischen Drogenabhängigkeit. / Foto: Adobe Stock/hbrh
In Deutschland gelten 44 Prozent der weiblichen Erwachsenen als übergewichtig und 16,5 Prozent als fettleibig. Bei den Männern sind es sogar 60 Prozent, die zu viel wiegen, und 17 Prozent gelten als adipös. In vielen anderen Ländern sieht es nicht besser aus: Die Tendenz zu Übergewicht und Adipositas ist weltweit stark steigend.
Viele Experten machen zum einen den hohen Anteil an Zucker, Fett, Salz und Geschmacksverstärkern in Fertigprodukten für die Adipositas-Epidemie verantwortlich. Viele Menschen nehmen dadurch gewohnheitsmäßig mehr Kalorien zu sich, als sie benötigen. »Zum anderen weisen Studien daraufhin, dass die Werbung und die Neigung, Stress durch Essen zu kompensieren, zusätzlich zu einem unkontrollierten Essverhalten beitragen«, sagt Privatdozent Dr. Jan Malte Bumb, der mit zwei Kollegen die Literatur zu Sucht und Übergewicht gesichtet hat. »Nahrungsmittel werden so nicht zur Aufrechterhaltung des Energiehaushalts, sondern aus ›mit abhängigen Verhaltensweisen vergleichbaren‹ Aspekten konsumiert«, meint der Oberarzt von der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Viele übergewichtige Menschen kennen beispielsweise das »Craving«, den starken Wunsch oder sogar Zwang zu essen, das insbesondere durch Nahrungsmittel mit einem hohen Anteil an Kohlenhydraten und Fetten ausgelöst werde. Des Weiteren zeige sich eine eingeschränkte Kontrollfähigkeit in Bezug auf die konsumierte Nahrungsmenge. Auch müssten die Betroffenen mit der Zeit immer größere Mengen essen, bis das Sättigungsgefühl einsetzt. »Wie von Suchterkrankten bekannt, könnte auch bei adipösen Patienten eine Toleranzentwicklung in Bezug auf Sättigung durch Nahrungsaufnahme vorliegen«, erklärt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Gründe hierfür sein, dass sich der Magen mit der Zeit vergrößert und die Wirkung des Sättigungshormons Leptin nachlässt.
Beobachtet wurde auch, dass die Betroffenen oft andere Interessen vernachlässigten und den Nahrungsmittelkonsum trotz nachgewiesener schädlicher Folgen nicht mehr einschränken könnten – beides Aspekte, wie sie auch bei »klassisch« substanzabhängigen Menschen aufträten. Das berichten die Autoren in der Fachzeitschrift »Suchttherapie«.
Ähnlichkeiten zu substanzabhängigen Patienten ließen sich auch im Gehirn finden. Im MRT zeigten sich bei beiden Gruppen Auffälligkeiten in Bereichen, die für Selbstkontrolle, Entscheidungsfindung und Handlungshemmnisse mitverantwortlich sind. »Hirnforscher gehen davon aus, dass dort der Grund für die Impulsivität und Zwanghaftigkeit zu finden ist, die sowohl den Konsum abhängigkeitserzeugender Substanzen als auch die wiederkehrende Heißhungeranfälle und die Größe der eingenommenen Mahlzeit bei adipösen Patienten kennzeichnen«, erklärt Bumb.
Kritiker der Suchthypothese führten an, dass der Mensch zum Überleben Nahrungsmittel konsumieren müsse und diese damit per se nicht mit klassischen abhängigkeitserzeugenden Substanzen vergleichbar seien. »Dennoch legen die gesichteten Forschungsbeiträge nahe, Suchtmechanismen bei der Behandlung der Adipositas stärker als bisher zu beachten, um neue und effizientere Therapieformen entwickeln zu können«, meinen die Review-Autoren.