Stigmatisierung sehen und vermeiden |
Was können wir nun besser machen? Auch wenn Veränderungen innerhalb eines ganzen Systems Zeit benötigen, können bereits kleine individuelle Maßnahmen zu einer Verbesserung der medizinischen Versorgung von Menschen mit psychischen und anderen Erkrankungen führen (7).
Man sollte sich nicht vom Ausmaß des Problems entmutigen lassen. Heilberufler und jedes Apothekenteam können selbst viel tun, um Anti-Stigma-Kompetenz zu entwickeln. Diese setzt sich aus den drei Bereichen zusammen: Wissen, Haltungen und Verhalten (8).
Hier sind die Aspekte Stigmatheorie, Recovery und die Bedeutung des Stigmas für Betroffene relevant.
Sich selbst beim Stigmatisieren zu erwischen, löst häufig Schuldgefühle aus, die wiederum Abwehrmechanismen hervorrufen können, die daran hindern, die Situation klar zu betrachten und etwas zu verändern. Hier kann es entlastend sein zu wissen, wie es dazu kommen kann, denn eine Tendenz zum Stigmatisieren ist zunächst einmal durchaus typisch für uns Menschen. Nach dem Prinzip der kognitiven Ökonomie tendieren Menschen zur Vereinfachung dazu, in Kategorien (»Schubladen«) zu denken.
Aus sozialpsychologischer Sicht führen Menschen ständig soziale Vergleiche durch und orientieren sich an sozialen Normen. Wenn andere Menschen von Erwartungen abweichen, stellt dies eine Bedrohung von Identität dar. Abwertung und Distanz zur Aufrechterhaltung des Selbstwerts und Betonung des eigenen Normalseins führen zur Stigmatisierung. Auch kann Diskriminierung dazu dienen, eigenen Ärger und Unzufriedenheit durch Ausagieren an anderen zu kanalisieren.
Eine Herausforderung für Heilberufler besteht darin, dass man betroffene Menschen eher in Akutphasen ihrer psychischen Erkrankung sieht. Dies führt schnell zu der kognitiven Verzerrung, dass man nur die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen wahrnimmt und übersehen kann, wie es vielen dieser Menschen in früheren oder späteren Phasen deutlich besser ging oder geht und sie dann auch nicht (mehr) auf Medikation angewiesen sind. Und wenn man nur auf Krankheitsstatus und Hilfebedarf achtet, kann man die Perspektive der Selbstbestimmtheit aus dem Blick verlieren: In der sogenannten Recovery-Bewegung geht man davon aus, dass jeder Mensch das Potenzial zur Genesung hat, grundsätzlich eigenverantwortlich handeln kann und an Entscheidungen beteiligt sein sollte, die ihn betreffen, da er selbst am besten weiß, was für ihn hilfreich ist.
Die Bedeutung und die Folgen von Diskriminierung für Betroffene zu kennen, sollte daher zur Grundausbildung von in der Gesundheitsversorgung tätigen Personen gehören. Schließlich gibt es seit 2006 in Deutschland ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (9). Neben den direkten Wirkungen auf die Gesundheit hat Ausgrenzung auch gesellschaftliche Folgen: Es kommt zu Benachteiligung bei der Wohnungssuche, verminderten Chancen am Arbeitsmarkt, erhöhter finanzieller Not, einer höheren Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden, und eingeschränkten Möglichkeiten zur Versicherung.
Egal welches Gesundheitsproblem die Patientin hat: Aufmerksames vorurteilsfreies Zuhören hilft in der pharmazeutischen Beratung. / Foto: Getty Images/FatCamera
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein depressiv erkrankter Mann kommt in die Apotheke und bittet um eine Beratung. Er ist sich unsicher, ob er das Citalopram-Rezept vom Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie einlösen soll. Er plage sich mit lebensmüden Gedanken. Der Arzt habe gesagt, er müsse das Medikament nehmen oder in eine Klinik gehen. Beides mache ihm große Angst und er glaube nicht, dass ihm geholfen werden könne. Wie kann das Apothekenteam gut reagieren?
Suizidgedanken und -impulse sind ein sehr häufiges Symptom bei Depression und machen diese zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Menschen mit schwerer Depression erleben nicht nur großes Leid, sondern haben krankheitsbedingt auch jegliche Hoffnung verloren. Sie glauben nicht daran, dass man ihnen helfen kann und sich ihr Zustand je wieder bessert. Daraus kann der Wunsch entstehen, nicht mehr leben zu wollen. Gerade jetzt ist es wichtig, den Patienten sachliche Informationen zu geben. Das Apothekenteam könnte zum Beispiel sagen: »Antidepressiva können Ihren Zustand verbessern. Sie wirken nach etwa 14 Tagen. Wenn die Suizidgedanken drängender werden, sollten Sie sich an Ihren Arzt wenden. Am Wochenende und nachts können Sie die nahegelegene psychiatrische Klinik anrufen. Dort wird man Ihnen helfen.«
Der Gesprächsleitfaden »Suizidale Menschen in der Apotheke – Warnzeichen erkennen und reagieren« steht im Internet zum Download bereit (www.ABDA.de/fuer-apotheker/qualitaetssicherung/leitlinien/leitlinien-und-arbeitshilfen). Die Leitlinien der Fachgesellschaften (www.awmf.org) bieten zudem umfangreiche Informationsmöglichkeiten zur Epidemiologie, Ätiologie, Symptomatik und Behandlung. Schulungsangebote der Apothekerkammern können das Wissen wirksam erweitern.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie nicht mehr weiterleben möchten oder denken Sie daran, Ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen? Reden hilft und entlastet. Die Telefonseelsorge hat langjährige Erfahrung in der Beratung von Menschen in suizidalen Krisen und bietet Ihnen Hilfe und Beratung rund um die Uhr am Telefon (kostenfrei) sowie online per Mail und Chat an. Rufen Sie an unter den Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 oder melden Sie sich unter www.telefonseelsorge.de. Die Beratung erfolgt anonym.