Steckbrief Tramadol |
Annette Rößler |
23.06.2021 07:00 Uhr |
Das Opioid-Analgetikum Tramadol wird bei mittelstarken bis starken Schmerzen eingesetzt und wirkt zentral. Auslöser der Schmerzen können beispielsweise Tumoren sein. / Foto: Adobe Stock/merydolla
Was ist das Einsatzgebiet von Tramadol?
Die Gabe von Tramadol ist indiziert bei Patienten ab einem Alter von einem Jahr mit mäßig starken bis starken Schmerzen. Unter den Opioiden zählt Tramadol mit einer Wirkstärke von einem Zehntel bis einem Sechstel des Morphins zu den schwach wirksamen. Es steht zusammen mit Tilidin/Naloxon und Dihydrocodein auf der Stufe zwei von drei des Stufenschemas der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Schmerztherapie. Tramadol wirkt antitussiv, aber nicht atemdepressiv. Als Substitutionsmittel bei Opiatabhängigkeit ist es ungeeignet, da es die Entzugssymptome nicht unterdrücken kann.
Wie wirkt Tramadol?
Die analgetische Wirkung wird von beiden Enantiomeren des Racemats Tramadol beziehungsweise seines aktiven Metaboliten O-Desmethyltramadol vermittelt. Das (+)-Enantiomer wirkt als Agonist an zentralen Opioidrezeptoren, vornehmlich des Typs µ, aber auch an δ- und κ-Rezeptoren. Darüber hinaus hemmt es die Wiederaufnahme von Serotonin. Das (-)-Enantiomer hemmt zusätzlich dazu auch die Wiederaufnahme von Noradrenalin.
Wie wird Tramadol dosiert?
Übliche Einzeldosen für Erwachsene und Jugendliche ab zwölf Jahren sind bei mäßig starken Schmerzen 50 mg und bei starker Schmerzintensität 100 mg. Im Allgemeinen brauchen Tagesdosen von 400 mg nicht überschritten werden, bei starken Schmerzen etwa bei Krebspatienten oder frisch Operierten kann dies aber erforderlich sein. Kinder zwischen einem und zwölf Jahren erhalten als Einzeldosis 1 bis 2 mg Tramadol pro Kilogramm Körpergewicht.
Es stehen verschiedene Darreichungsformen zur Verfügung: Injektionslösung, Kapseln, retardierte und nicht retardierte Tabletten, Tropfen und Zäpfchen. Daneben existieren fixe Kombinationen etwa mit Paracetamol. Nach oraler Gabe ist die maximale Plasmakonzentration von Tramadol bei flüssigen Darreichungsformen nach etwa einer Stunde und bei festen, nicht retardierten Darreichungsformen nach zwei Stunden erreicht. Die Wirkdauer beträgt unabhängig von der Art der Applikation etwa vier bis acht Stunden. Bei chronischen Schmerzen sollten Retardformen nach einem festen Zeitplan angewendet werden. Tramadol kann unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen werden.
Welche Nebenwirkungen kann Tramadol haben?
Übelkeit und Schwindel sind die häufigsten Nebenwirkungen von Tramadol, sie betreffen mehr als einen von zehn behandelten Patienten. Tramadol senkt die Krampfschwelle und kann insbesondere zu Beginn der Therapie Hypoglykämien auslösen. Das Risiko für Unterzuckerung beruht wohl auf der gleichzeitigen Aktivierung der µ-Opioidrezeptoren und der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung und ist nicht auf Diabetiker beschränkt. Das Abhängigkeitspotenzial von Tramadol ist gering, dennoch können sich bei längerem Gebrauch Toleranz sowie psychische und physische Abhängigkeit entwickeln.
Kann Tramadol in Schwangerschaft und Stillzeit angewendet werden?
Laut Fachinformation ist die Anwendung von Tramadol bei Schwangeren in Einzeldosen möglich, als chronische Gabe aber zu vermeiden. Wird Tramadol vor oder während der Geburt gegeben, beeinflusst das nicht die Kontraktionsfähigkeit des Uterus. Während der Stillzeit ist zu beachten, dass Tramadol in sehr geringen Mengen in die Muttermilch übergeht. Eine Anwendung bei stillenden Müttern sollte vermieden werden, die einmalige Gabe erfordert aber in der Regel keine Unterbrechung des Stillens.
Welche Kontraindikationen und Interaktionen sind zu beachten?
Da die serotonerge Wirkung von Tramadol durch gleichzeitige Gabe mit MAO-Hemmern potenziert wird, ist diese Kombination kontraindiziert: MAO-Hemmer müssen mehr als 14 Tage vor dem Beginn einer Tramadol-Therapie abgesetzt worden sein. Auch die Kombination mit anderen serotonerg wirkenden Arzneistoffen, insbesondere mit Antidepressiva, sollte unterbleiben. Ebenfalls nicht zu empfehlen ist die gleichzeitige Gabe mit Wirkstoffen, die wie Tramadol die Krampfschwelle senken, zum Beispiel Neuroleptika. Patienten mit nicht ausreichend kontrollierter Epilepsie dürfen Tramadol nicht erhalten. Bei gleichzeitiger Anwendung mit Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon kann die Blutungsneigung steigen; die INR-Werte müssen daher häufig kontrolliert werden. Werden zentral dämpfende Substanzen wie Schlaf- und Beruhigungsmittel, andere Opioide, aber auch Alkohol zusammen mit Tramadol angewendet, ist mit einer Verstärkung der zentralen Effekte zu rechnen.
O-Desmethyltramadol, der wirksame Metabolit des Tramadols, wird in der Leber durch das Enzym CYP2D6 gebildet. Bei Patienten, die bezüglich dieses Enzyms ultraschnelle Metabolisierer sind, kann der Wirkspiegel stark steigen. Schätzungen zufolge liegt dieses Merkmal bei 3,6 bis 6,5 Prozent der Kaukasier vor, sodass auch nach Gabe von üblichen Dosen stets auf Anzeichen einer Opioidvergiftung wie Verwirrtheit, flacher Atem oder kleine Pupillen zu achten ist.
Seit wann gibt es Tramadol?
Tramadol wurde erstmals 1962 von dem Chemiker Kurt Flick, einem Mitarbeiter der Firma Grünenthal, synthetisiert und von Grünenthal 1977 als Tramal® auf den Markt gebracht. Das Analgetikum entwickelte sich schnell zu einem Blockbuster. Obwohl mittlerweile viele Generika verfügbar sind, bescherten die Marken Tramal® und Zaldiar® (Fixkombination Tramadol/Paracetamol) Grünenthal im Jahr 2019 zusammen einen Umsatz von 165 Millionen Euro.
Synthetisch oder nicht?
2013 machte ein internationales Forscherteam Furore, weil es Tramadol in hohen Konzentrationen in den Wurzeln der afrikanischen Pflanze Nauclea latifolia nachgewiesen hatte. Den immergrünen Strauch oder Baum aus der Familie der Rubiaceae, der auch als Pin Cushion Tree (Nadelkissenbaum) oder African Peach (afrikanischer Pfirsich) bezeichnet wird, verwenden traditionelle Heiler unter anderem in Kamerun zur Behandlung von Epilepsie, Fieber, Malaria und nicht zuletzt bei Schmerzen. Es sei das erste Mal, dass ein vollsynthetischer Arzneistoff in so hohen Konzentrationen in einer natürlichen Quelle gefunden worden sei, schrieb das Forscherteam um Ahcène Boumendjel von der Universität Grenoble in der englischen Ausgabe des Fachjournals »Angewandte Chemie« (DOI: 10.1002/anie.201305697).
Wissenschaftler der TU Dortmund um Dr. Souvik Kusari meldeten jedoch im selben Journal Zweifel an: Tramadol komme in der Pflanze mitnichten natürlich vor, sondern habe sich in der Wurzel angereichert. Der Fund sei das Ergebnis einer Kreuzkontamination von Wasser und Boden mit den Ausscheidungen von Rindern, die off Label mit dem Opioid behandelt worden seien (DOI: 10.1002/anie.201406639). Die Gruppe um Boumendjel wehrte sich in »Chemical Communications«, indem sie einen potenziellen Syntheseweg für Tramadol in der Pflanze vorstellte (DOI: 10.1039/c5cc05948h). Es ist also durchaus möglich, dass Nauclea latifolia den Grünenthal-Chemikern mit der Synthese von Tramadol zuvorgekommen ist.
Strukturformel Tramadol / Foto: Wurglics