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Häufige Arzneistoffe

Steckbrief Glyceroltrinitrat

Ein »Nitro-Spray« darf in keiner Handtasche eines Patienten mit Angina pectoris fehlen. Es kann mit seiner gefäßerweiternden Wirkung akute Anfälle kupieren. Der Inhaltsstoff Glyceroltrinitrat ist Laien besser bekannt als  Sprengstoff: Nitroglycerin.
Annette Rößler
28.04.2023  07:00 Uhr

Was sind die Einsatzgebiete von Glyceroltrinitrat?

Haupteinsatzgebiet von Glyceroltrinitrat (GTN) ist die Behandlung oder Vorbeugung von Angina-pectoris-Anfällen. Darüber hinaus wird es bei Herzinfarkt, Linksherzversagen, Koronarspasmen im Zusammenhang mit kathetergestützten Eingriffen, bei hypertensiver Krise und zur kontrollierten Hypotension verwendet. Topisch wird GTN darüber hinaus bei chronischen Analfissuren angewendet.

Welche Darreichungsformen sind verfügbar?

GTN gibt es als Sublingualspray, Zerbeißkapsel, Infusionslösung, transdermales therapeutisches System (TTS) und Rektalsalbe.

Wie wirkt Glyceroltrinitrat?

GTN zählt zur Gruppe der organischen Nitrate und wirkt als NO-Donator, also über die Freisetzung von Stickstoffmonoxid (NO). In Zellen der glatten Muskulatur aktiviert NO die im Zytosol gelöste Guanylylcyclase, was schließlich zur vermehrten Bildung von cyclischem Guanosinmonophosphat (cGMP) führt und ein Erschlaffen der Zelle bewirkt. Es kommt zu einer Vasodilatation insbesondere der Kapazitätsgefäße. Dadurch nimmt das venöse Blutangebot an das Herz ab: Die Vorlast sinkt. Da auch der Aortendruck und das ventrikuläre Füllvolumen abnehmen, wird die Nachlast ebenfalls geringer.

Auch bei der topischen Anwendung von Glyceroltrinitrat macht man sich die relaxierende Wirkung auf glatte Muskelzellen zunutze: Durch die intraanale Applikation wird der bei Patienten mit chronischen Analfissuren erhöhte Muskeltonus des inneren Analsphinkters gesenkt.

Wie wird Glyceroltrinitrat dosiert?

Da GTN zu Blutdruckabfall führt, soll der Patient während der Anwendung möglichst sitzen. Zur Anfallskupierung beziehungsweise vorbeugend unmittelbar vor Belastungen, die erfahrungsgemäß einen Angina-pectoris-Anfall auslösen, werden je nach Schweregrad 0,4 bis 1,2 mg GTN sublingual (1 bis 3 Hübe des Mundsprays) beziehungsweise 0,8 mg GTN (1 Zerbeißkapsel) gegeben. Bei Anwendung des Mundsprays sollen die Sprühstöße in Abständen von etwa 30 Sekunden unter die Zunge gesprüht werden. Dabei den Atem anhalten, um das Spray nicht zu inhalieren. Die Kapsel wird zerbissen und der Kapselinhalt möglichst lange in der Mundhöhle behalten. Danach kann die Kapselhülle geschluckt oder ausgespuckt werden.

Bei akuter Linksherzinsuffizienz und akutem Herzinfarkt beträgt die empfohlene Dosis ebenfalls 0,4 bis 1,2 mg (Spray) beziehungsweise 0,8 mg (Kapsel), die bei Nichtansprechen nach zehn Minuten noch einmal gegeben werden darf. Vorbeugend vor der Koronarangiografie werden 0,4 bis 0,8 mg (1 bis 2 Hübe oder 1 Kapsel) empfohlen.

TTS sind mit 5 oder 10 mg GTN verfügbar. Das Pflaster wird einmal täglich (morgens oder abends) für circa zwölf Stunden zum Beispiel seitlich auf den Brustkorb geklebt (dieselbe Anwendungsstelle erst nach einigen Tagen wieder nutzen). Eine Anwendungspause von zwölf Stunden ist einzuhalten, um einer Toleranzentwicklung vorzubeugen.

Die topische Behandlung von akuten Symptomen einer Analfissur sollte mit 1,5 mg GTN alle zwölf Stunden erfolgen. Dazu wird ein Salbenstrang einer definierten Länge auf einen mit einem Fingerling oder mit Frischhaltefolie überzogenen Finger aufgetragen und in den Analkanal eingeführt. Die topische Behandlung darf maximal acht Wochen lang fortgesetzt werden.

Wann darf Glyceroltrinitrat nicht angewendet werden?

Zu den Kontraindikationen gehören akutes Kreislaufversagen, ausgeprägte Hypotonie (systolischer Blutdruck weniger als 90 mmHg), schwere Anämie und die Einnahme von Phosphodiesterase-5 (PDE-5)-Hemmern wie Sildenafil. Um einen starken Blutdruckabfall zu vermeiden, darf GTN auch dann nicht gegeben werden, wenn Patienten nach der Anwendung eines PDE-5-Hemmers akute pectanginöse Beschwerden entwickeln. Die Fachinformation der Rektalsalbe listet zudem unter anderem die gleichzeitige Anwendung langwirksamer NO-Donatoren, Migräne und Engwinkel-Glaukom als Gegenanzeigen auf.

Welche Nebenwirkungen sind möglich?

Infolge der Gefäßerweiterung im Gehirn kann ein sogenannter Nitratkopfschmerz als Nebenwirkung auftreten, insbesondere bei der Anwendung von GTN-TTS oder -Rektalsalbe. Weitere mögliche Nebenwirkungen sind unter anderem Tachykardie, orthostatische Hypotension, Asthenie und Flush.

Die blutdrucksenkende Wirkung von Glyceroltrinitrat kann die Fahrtüchtigkeit des Patienten einschränken. Nach einer Akutanwendung sollte er mindestens fünf Minuten warten, bevor er Auto fährt oder eine Maschine bedient.

Welche Wechselwirkungen kann Glyceroltrinitrat eingehen?

Die Wirkung von GTN kann verstärkt werden bei gleichzeitiger Anwendung mit N-Acetylcystein sowie mit anderen Mitteln, die den Blutdruck senken und/oder gefäßerweiternd wirken (auch Alkohol). Bei gleichzeitiger Anwendung mit Dihydroergotamin kann dessen blutdrucksteigernde Wirkung verstärkt werden. Wird GTN zusammen mit Heparin gegeben, kann das die Wirkung des Gerinnungshemmers abschwächen.

Was ist in Schwangerschaft und Stillzeit zu beachten?

Laut Embryotox, dem Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Berliner Charité, darf GTN bei entsprechender Indikation in der Schwangerschaft und auch kurzzeitig in der Stillzeit angewendet werden.

Seit wann gibt es Glyceroltrinitrat?

GTN entsteht, wenn man wasserfreies Glycerol mit einer Mischung aus konzentrierter Salpetersäure und konzentrierter Schwefelsäure verestert. Das entdeckte der italienische Chemiker Ascanio Sobrero im Jahr 1847. Es handelt sich um einen Trisalpetersäureester, weshalb der landläufige Name Nitroglycerin eigentlich falsch ist, da die Vorsilbe Nitro- eine NO2-Gruppe bezeichnet, die direkt an ein Kohlenstoffatom gebunden ist.

GTN ist eine ölige, schlecht wasserlösliche Flüssigkeit, die bei geringer Erschütterung explosionsartig in Kohlendioxid, Stickstoff, Stickstoffmonoxid und Wasser zerfällt, was die sichere Handhabung enorm erschwerte. Dies änderte sich, als es dem schwedischen Chemiker Alfred Nobel gelang, GTN mit Kieselgur zu fixieren. 1867 ließ sich der Stifter des später weltberühmten Preises diese Erfindung mit dem Namen Dynamit patentieren.

Medizinisch genutzt wird GTN etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Lange war jedoch unklar, wie die antianginöse Wirkung zustande kommt. Die Wirkweise des auch Endothelium Derived Relaxing Factor (EDRF) genannten Botenstoffs NO wurde erst in den 1970er- bis 1980er-Jahren durch die Arbeiten von Robert Furchgott, Louis Ignarro, Salvador Moncada und Ferid Murad aufgeklärt. 1998 erhielten Furchgott, Ignarro und Murad dafür den Nobelpreis für Medizin.

Können Arzneimittel mit Glyceroltrinitrat Sprengstoffalarm auslösen?

Da GTN in Arzneimitteln stark verdünnt und auch stabilisiert ist, besteht selbstverständlich keine Explosionsgefahr. Möglich ist jedoch, dass besonders empfindliche Geräte bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen oder auch Sprengstoff-Spürhunde auf ein »Nitro-Spray« im Handgepäck anschlagen.

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