SARS-CoV-2 ist Produkt der natürlichen Evolution |
Sven Siebenand |
18.03.2020 17:12 Uhr |
Die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 wird weltweit begleitet von Verschwörungstheorien. / Foto: Adobe Stock/Dmitry Volochek
»Durch den Vergleich der verfügbaren Genomsequenzdaten für bekannte Coronavirus-Stämme konnten wir sicher feststellen, dass SARS-CoV-2 durch natürliche Prozesse entstanden ist«, so Professor Dr. Kristian Andersen in einer Mitteilung des Scripps Research Instituts in La Jolla, Kalifornien. Der Professor für Immunologie und Mikrobiologie ist auch Erstautor der Publikation »The proximal origin of SARS-CoV-2« im Fachmagazin »Nature Medicine«.
Relativ schnell nach seinem Auftreten hatten chinesische Wissenschaftler das Genom von SARS-CoV-2 sequenziert und stellten die Daten Forschern weltweit zur Verfügung. Andersen und Kollegen nutzten diese Daten, um die Ursprünge und die Entwicklung von SARS-CoV-2 zu untersuchen, indem sie den Fokus auf bestimmte Merkmale des Virus legten. Die Wissenschaftler analysierten die genetische Vorlage für ein sogenanntes Spike-Protein an der Außenseite des Virus, mit dem die Außenwände menschlicher und tierischer Zellen gebunden und durchdrungen werden. Insbesondere konzentrierten sie sich auf zwei wichtige Merkmale des Proteins: die Rezeptorbindungsdomäne (RBD) und die Spaltstelle. Erstere vergleichen die Forscher mit einem Greifhaken, mit dem das Virus an die Wirtszelle andockt und zweites mit einem »molekularen Dosenöffner«, der es dem Virus ermöglicht, die Wirtszelle zu öffnen und in sie einzudringen.
Der RBD-Anteil des SARS-CoV-2-Spike-Proteins hat sich offenbar so entwickelt, dass er effektiv auf den ACE2-Rezeptor abzielt. Dass dieser Rezeptor für die Infektion der Wirtszelle wichtig ist, weiß man schon seit Längerem. In der Publikation schreiben die Forscher, dass Untersuchungen darauf hindeuten, dass SARS-CoV-2 menschliches ACE2 mit hoher Affinität binden kann, Computeranalysen würden aber voraussagen, dass die Wechselwirkung nicht ideal sei. Außerdem unterscheide sich die RBD-Sequenz von SARS-CoV-2 von den Sequenzen, von denen für SARS-CoV gezeigt wurde, dass sie für die Rezeptorbindung optimal sind. Aus der Sicht eines Wissenschaftlers, der gezielt ein pathogenes Virus »züchten« will, wäre es also nicht vorhersehbar gewesen, dass gerade diese Sequenz so zielführend ist. »Daher ist die hochaffine Bindung des SARS-CoV-2-Spike-Proteins an menschliches ACE2 höchstwahrscheinlich das Ergebnis einer natürlichen Selektion an einem menschlichen oder menschenähnlichen ACE2, die das Entstehen einer weiteren optimalen Bindungslösung ermöglicht.« Dies sei ein starker Beweis dafür, dass SARS-CoV-2 nicht das Produkt gezielter Manipulation ist.
Die Forscher haben noch ein zweites Argument, das für natürliche Evolution und gegen gezielte Manipulation spricht: die gesamte Struktur des Virus. »Wenn jemand versucht hätte, ein neues Coronavirus als Krankheitserreger zu entwickeln, hätte er es aus dem Rückgrat eines Virus konstruiert, von dem bekannt ist, dass es Krankheiten verursacht«, schreiben die Wissenschaftler. Sie fanden jedoch, dass sich die Struktur von SARS-CoV-2 erheblich von dem bereits bekannter humanpathogene Coronaviren unterscheidet. Stattdessen ähnelt sie größtenteils Viren, die zum Beispiel in Fledermäusen und Schuppentieren (Pangolinen) gefunden wurden. »Diese beiden Merkmale des Virus, die Mutationen im RBD-Teil des Spike-Proteins und die Struktur des Virus, schließen eine Manipulation im Labor als möglichen Ursprung für SARS-CoV-2 aus«, so Andersen.
Die Forscher kommen stattdessen zu dem Schluss, dass der Ursprung von SARS-CoV-2 wahrscheinlich die Folge eines von zwei möglichen Szenarien ist. Im ersten Fall entwickelte sich das Virus durch natürliche Selektion in einem nicht menschlichen Wirt zu seinem gegenwärtigen pathogenen Zustand und sprang danach auf den Menschen über. Auf diese Weise sind auch frühere, bekannte Coronavirus-Ausbrüche aufgetreten, bei denen sich Menschen nach direktem Kontakt zu Tieren mit dem Virus infiziert haben, etwa mit Kamelen beim Middle East Respiratory Syndrome (MERS). Als wahrscheinlichstes Reservoir für SARS-CoV-2 werden Fledermäuse genannt, da es einem Fledermaus-Coronavirus sehr ähnlich ist. Eine direkte Übertragung zwischen Fledermaus und Mensch halten die Wissenschaftler aber für unwahrscheinlich. Sie gehen von der Beteiligung eines Zwischenwirts aus.
Schuppentiere könnten das SARS-CoV-2 oder eine nicht pathogene Vorstufe des Virus auf den Mensch übertragen haben. / Foto: Adobe Stock/ 2630ben
In diesem Szenario hätten sich beide charakteristischen Merkmale des Spike-Proteins von SARS-CoV-2, der RBD-Teil und die Spaltstelle, vor dem Eintritt in den menschlichen Körper zu ihrem aktuellen Zustand entwickelt. In diesem Fall wäre die weitere Verbreitung unter Menschen dann schnell aufgetreten, da das Virus bereits die Merkmale entwickelt hatte, die es pathogen machen.
Im zweiten möglichen Fall sprang eine nicht pathogene Version des Virus von einem tierischen Wirt auf den Menschen über und entwickelte sich danach zu dem aktuellen pathogenen Zustand. Beispielsweise haben einige Coronaviren aus Pangolinen eine RBD-Struktur, die der von SARS-CoV-2 sehr ähnlich ist. Ein Coronavirus aus einem Pangolin könnte möglicherweise direkt oder über einen Zwischenwirt auf einen Menschen übertragen worden sein. Danach könnte sich die Spaltstelle innerhalb eines menschlichen Wirts weiterentwickelt haben, über eine unentdeckte Zirkulation in der menschlichen Bevölkerung vor Auftreten der ersten Fälle.
Die Forscher fanden heraus, dass die SARS-CoV-2-Spaltstelle den Spaltstellen von Vogelgrippe-Stämmen ähnlich ist, von denen gezeigt wurde, dass sie leicht zwischen Menschen übertragen werden können. SARS-CoV-2 hätte eine solche virulente Spaltstelle in menschlichen Zellen entwickeln und nach diesem Schritt die aktuelle Epidemie auslösen können, da das Virus dann weitaus besser in der Lage gewesen wäre, sich zwischen Menschen auszubreiten.
Was trifft eher zu? Szenario 1 oder 2? Einer der Koautoren der Publikation, Professor Dr. Andrew Rambaut von der Universität Edinburgh, ist der Auffassung, dass es derzeit nicht möglich ist zu sagen, welches der beiden Szenarien wahrscheinlicher ist.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.