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Mögliche Impfpflicht

Rationale Argumente können Impf-Ängste noch verstärken

Ungeimpfte haben oft irrationale Angst vor der Covid-19-Impfung. Rationale Argumente würden nicht viel helfen, sondern könnten die Ängste verstärken, erklärte der Soziologe Prof. Armin Nassehi im Rahmen eines Vortrags bei House of Pharma zu Aspekten einer Covid-19-Impfpflicht. Impfskepsis sei kaum mit Bildung zu erklären. Er kritisierte daher die staatlichen Impfkampagnen.
Charlotte Kurz
29.03.2022  12:00 Uhr

Bei der Debatte um eine mögliche Covid-19-Impfpflicht könnte sich nächste Woche ein Kompromiss unter einigen Fraktionen im Deutschen Bundestag abzeichnen. Auch für die Apotheken könnte die Umsetzung einer Impfpflicht wichtig werden. Die PZ hatte sich bereits mit dem Für und Wider einer Impfpflicht aus medizinischer Sicht sowie mit rechtlichen Aspekten und wann eine Impfpflicht auch verfassungsmäßig sein könnte, befasst.

Aber auch die soziologischen und gesellschaftlichen Aspekte einer möglichen Impfpflicht sind in der Debatte nicht zu vernachlässigen, insbesondere in der Hinsicht auf Impfskepsis. Darauf wies Professor Armin Nassehi am gestrigen Montagabend in einem Vortrag mit dem Titel »Impfrecht, Impfpflicht, Impfbereitschaft - eine Parabel auf die Steuerbarkeit einer modernen Gesellschaf«  im Rahmen von House of Pharma & Healthcare hin. Nassehi ist Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der LMU in München, berät aber auch Politikerinnen und Politiker insbesondere in der aktuellen Pandemie.

Pandemien seien ein gesellschaftliches Phänomen, so Nassehi in seinem Vortrag. Die Ansteckungswege einer Pandemie gleichen denen, die auch eine Gesellschaft zurücklegt. Damit sei die Bekämpfung der Pandemie nicht nur eine medizinische Aufgabe, sondern auch eine gesellschaftliche. Und: Die Drastik der Pandemie habe sehr viel mit der Aufmerksamkeit einer Gesellschaft, der sogenannte Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Er verglich die Coronavirus-Pandemie etwa mit der Hongkong-Grippe von 1968-1970, die damals auch in Deutschland ankam, allerdings kaum zur Kenntnis genommen wurde. Deshalb wurden damals auch nur wenige drastische Maßnahmen zur Eindämmung eingesetzt. Die meisten Personen – außerhalb der Fachkreise – wüssten heute fast nichts über diese Pandemie oder auch über andere wie die Spanischen Grippe, deshalb sei diese im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft nicht sehr stark verankert.

Pestquarantäne oder Pockendisziplinierung?

Medizinhistorisch gesehen, gebe es zwei Vorgehensweisen zur Bewältigung einer Pandemie, so Nassehi. Dabei verwies er auf den Medizinhistoriker Michel Foucault. Dieser unterschied zwischen einer Pestquarantäne, also einer Ausgrenzung, Isolation oder Ausmerzung und einer Pockendisziplinierung, die auf politische, pädagogische, moralische und ökonomische Regulierung angewiesen ist. Seit es Impfungen gibt, werde auch auf die Disziplin der zu impfenden Personen geachtet, damit kam noch eine disziplinierte Selbstverantwortung hinzu. Aus diesen Maßnahmen bedient sich auch die derzeitige Pandemie-Bewältigung.

Heute sieht die Situation aber so aus, dass laut der COSMO-Studie (Covid-19 Snapshot Monitoring, Stand: Mitte März 2022) 80 Prozent der bislang nicht-geimpften Personen ausgesagt haben, dass sie keine Absicht haben, sich impfen zu lassen. Selbst wenn es also eine wirkungsvollere Impfkampagne oder sogar eine Impfpflicht geben würde, wäre es also sehr schwierig diese Personen von einer Impfung zu überzeugen. Diese Impfskepsis sei zudem kaum mit Bildung zu erklären. »Bildung hilft dagegen so gut wie gar nicht« und »je höher die Bildung desto semantisch komplexer sind die Vorurteile«, betonte Nassehi. Damit spielt er auf die kontraintuitive Wirkung der Impfung an, die im 18. Jahrhundert erstmals anhand der Pocken entdeckt und gleich zu Anfang auch umstritten war. Die Gesundung durch Kontakt mit Substanzen eines Kranken oder sogar mit Substanzen eines Tieres widersprach dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft aus der Pestzeit, wo jeglicher Kontakt mit Kranken vermieden wurde. Diese Behauptung des Gegenteils hat sich scheinbar im kollektiven Gedächtnis erhalten, schlussfolgerte Nassehi.

Impfskepsis existiert seit Anbeginn von Impfungen

Auch bereits um 1800 gab es Impfskepsis im Zuge der sogenannten Vernunftaufklärung, die damals gegen die wissenschaftliche Empirie diskutierte. Um 1900 war auch unter dem gebildeten Bürgertum in vielen europäischen Ländern ein Irrationalismus bezüglich Impfungen trotz hohen Bildungsgrads weit verbreitet, insbesondere unter kulturell und weniger unter naturwissenschaftlich gebildeten Menschen, so Nassehi. Das Problem auch heute: Rund 70 Prozent der Ungeimpften haben große Angst vor der Impfung (COSMO-Studie, Stand: Ende Februar 2022). Wer irrationale Ängste vor der Impfung habe, sei aber laut Nassehi nicht empfänglich für rationale Erklärungen. Rationale Argumente und Informationen könnten sogar das Gegenteil des Erwünschten hervorbringen, also noch mehr Ängste, weil den Informationen schlichtweg nicht vertraut wird. Im Vergleich zu Ende November 2021, zeigte die COSMO-Studie nun im Februar, dass die Angst unter den nicht-geimpften Personen sogar noch angewachsen war.

Offen blieb Nassehi allerdings in dem Punkt, wie man auf diese Ängste, etwa beim Beratungsgespräch in der Apotheke am besten reagiert. Er kritisierte jedoch die aktuellen staatlichen Kampagnen zu bestimmten Verhaltensweisen und zum Impfen. Diese seien in Deutschland nicht gut gemacht worden. »Da haben die Bundesregierung und auch die Landesregierungen es versäumt, anders als in anderen Ländern, hier Profis aus Marketing und Werbe-Agenturen ranzulassen«, so Nassehi.

Impfpflicht müsste auch durchsetzbar sein

Das Problem mit der Impfpflicht sei nun, dass sie aufzeige, welche Steuerungsprobleme in einem komplexen System wie unserer Gesellschaft herrschen können. Nassehi bezweifelte dabei, ob der Staat die politische Macht hätte, eine Impfpflicht auch durchzusetzen. Denn in einer Demokratie könne nur das reguliert werden, was auch tatsächlich sanktionierbar ist. Einen Impfzwang, also dass jemand von der Polizei abgeholt wird und zwangsmäßig geimpft werde, sei aber mit dem aktuellen Coronavirus nicht vorstellbar, so Nassehi. Deshalb sei eine Impfpflicht vor dem Hintergrund der 80 Prozent, die nicht die Absicht haben, sich impfen zu lassen, kaum durchzusetzen, auch bei Sanktionierung etwa durch wiederholte Bußgelder.

Erschwerend komme hier noch die sogenannte Gegenwärtigkeitsorientierung hinzu. »Wir sind eigentlich kaum zukunftsfähig«, konstatierte Nassehi. Damit meinte er, dass in den kommenden Sommermonaten, in denen die Corona-Inzidenzen wieder sinken werden, der Bedarf von weiteren Impfungen oder sogar einer Impfpflicht in der Gesellschaft kaum mehr als nötig erachtet wird. Diese Gegenwärtigkeitsorientierung erschwere Demokratien langfristige Ziele zu erreichen oder auch Probleme zu lösen.

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