Push-ups für die Zellen |
Die Kleinen lernen von den Großen. Eine möglichst pflanzenbasierte Ernährung von Klein auf ist eine Art Lebensversicherung für gesundes Altern. / Foto: Getty Images/Halfpoint Images
»Im Wesentlichen ist es ein gesunder Lebensstil, der Tag für Tag über Jahre hinweg das Wunderwerk unserer zellulären Intelligenz stärkt«, sagt Nina Ruge im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. »Den ultimativen Instant-Verjüngungscocktail mit Supplementen und Medikamenten kann es nicht geben. Dazu ist Altern ein viel zu komplexer Prozess. Zudem geht es nicht darum, 140 Jahre alt zu werden, sondern die Lebensspanne, die man in Gesundheit verbringt, auszudehnen.« Als studierte Biologin und Germanistin recherchiert sie seit Jahren leidenschaftlich zum Thema gesunde Langlebigkeit. In ihren drei »Verjüngungsbüchern« nimmt sie sämtliche Studien unter die Lupe, lässt namhafte Experten zu Wort kommen und weckt Neugier auf »diese unglaubliche Longevity-Welt, die sich auftut«.
Laut Ruge ist das Alter unserer Zellen zu guten zwei Dritteln durch den Lebenswandel beeinflussbar. Nur rund 30 Prozent ist genetisch bestimmt. Damit kommt einer gesunden Ernährung, erholsamem Schlaf, dem Alter angepasster Bewegung, der richtigen Atmung sowie mentaler Faktoren eine enorme Bedeutung zu. »Weil die Art und Weise unseres Lebensstils unsere epigenetische Signatur zu beeinflussen mag, haben wir eine enorme Selbstverantwortung, wie wir altern. Eigenverantwortung bedeutet, sich zu disziplinieren und nicht alles an Medikamente zu delegieren«, so Ruge. Auch ganz wichtig: Interventionen müssen frühzeitig einsetzen, und nicht erst, wenn der Funktionsverlust bereits zu Krankheiten wie Osteoporose, Herzinfarkt oder Diabetes geführt hat.
Nahrungskarenz über mindestens 14 Stunden beeinflusst am Altern beteiligte Proteine zum Positiven - noch effektiver, wenn die Essenspause nachts liegt.. / Foto: Adobe Stock/Echelon IMG
Gesunder Lebensstil nutze die Zellphysiologie, um den Zellen einen neuen Schub zu verleihen. Er stärke drei wesentliche »Zellkompetenzen« – wie Ruge es nennt –, und zwar die Zellerneuerung, deren Energieversorgung und ihre Entgiftung. Und es ist ja auch so: Mit der Zeit verlieren Stammzellen an Potenz, zell-eigene Reparatur- und Erneuerungssysteme schwächeln und anfallende senszente Zellen (»Zombiezellen«) sind irreversibel im Zellzyklus arretiert und behindern den Zell-Workflow. Die Dynamik unserer Kleinstkraftwerke, die Mitochondrien, lässt bereits ab 25 Jahren nach, und das vor allem in Geweben und Organen, die sich ohnehin selten erneuern, also Nervenzellen, Herzmuskelzellen, Sinneszellen von Auge und Ohr. Sie verlieren dann pro Jahr etwa ein Prozent ihrer Leistungsfähigkeit. Und die Atmungskette eines 60-Jährigen bringe nur noch die Hälfte ihrer ursprünglichen Leistung, führt Ruge aus. Gleichzeitig fallen verstärkt nicht mehr benötigte und krankhafte Zellbestandteile an, weil Prozesse der Autophagie, also der zelleigenen Recycling-Anlage, weniger effizient arbeiten. So entstehen etwa durch dauerhafte Anlagerung von Glucose an Eiweiß- und Fettverbindungen die Advanced Glycation Endproducts (AGEs). Dadurch verlieren Blutgefäße ihre Elastizität, Muskeln ihre Dehnungsfähigkeit, die Haut wirft Falten.
In der Kalorienrestriktion und dem intermittierenden Fasten sieht Ruge eine gute Möglichkeit, die Zellfunktionen länger zu erhalten. »Fasten erzielt quasi eine Schubumkehr unseres Zellstoffwechsels. Ich bin ein großer Fan von einer dauerhaften Umstellung, also Intervallfasten mit reduzierter Kalorienanzahl. Das Heilfasten macht man ja höchstens ein- bis zweimal pro Jahr.« Bei längerer Nahrungskarenz geht der Körper in den sogenannten Hungerstoffwechsel über. Um Energie zu gewinnen, mobilisiert er statt Glucose überflüssige Fettreserven und fehlgefaltete Proteine. Dabei werden Ketonkörper als Ersatzbrennstoff freigesetzt, Blutzucker- und Insulinspiegel bleiben niedrig. Eine Fastenphase von ungefähr 16 Stunden ist für diese Wirkung notwendig.
Fasten scheint so effektiv zu sein, weil wesentliche an der Modulation des Alterns beteiligte Proteine beeinflusst werden: »In dem Moment, in dem der Körper durch Nahrungsentzug in einen gewissen Stress kommt, wird der mTOR-Proteinschalter deaktiviert. Damit werden anabolische Prozesse gestoppt. Doch da die Zelle Nahrung braucht – Mitochondrien laufen weiter und ATP muss gebildet werden –, geht die Zelle in die Autophagie. Sie schiebt also die Müllverwertung, das Recycling massiv an«, erklärt Ruge. Ein weiterer positiver Aspekt: »Die Sirtuine, die die Häufigkeit der Zellteilung und die Reparaturfähigkeit der DNA steuern, werden durch das Intervallfasten aktiviert. Dadurch, dass sich die Zellen durch weniger Nahrung langsamer teilen, haben mehr Reparaturenzyme mehr Zeit, die DNA zu reparieren. Eine durch Intervall-fasten ‚gesündere DNA‘ ist ein entscheidender Vorteil – wenn man bedenkt, dass 10.000 Schäden pro Zelle pro Tag vorliegen.«
Schon vor vielen Jahren haben Wissenschaftler in Laborversuchen herausgefunden, dass Tiere gesünder sind, wenn man ihnen nicht fortlaufend Essen anbietet, sondern sie Pausen machen. Sie litten seltener unter chronischen Erkrankungen und lebten um 20 bis 30 Prozent länger. Zwar kann man diese Ergebnisse nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Aber auch in Humanstudien zeigte sich in den vergangenen Jahren, dass Intervallfastende neben dem Gewichtsverlust weitere gesundheitliche Vorteile haben: eine gestärkte Immunabwehr, weniger entzündliche Prozesse, bessere Blutdruckwerte, einen verbesserten Zucker- und Fettstoffwechsel sowie weniger Demenzfälle.
Ruge hält sich bei der Auswahl an Lebensmitteln an die Ernährungsregeln von Dr. Valter Longo, Professor für Biogerontologie und Zellbiologie und Leiter des Longevity Institute an der University of Southern California. Demnach sollen 80 Prozent der Nahrung aus Gemüse bestehen, das bestenfalls saisonal, regional und biologisch angebaut ist. Laut Longo soll man pro Woche 25 verschiedene Gemüsesorten und Kräuter konsumieren. Auch die Proteine sollten möglichst aus Pflanzen stammen, wie aus Hülsenfrüchten. 0,7 bis 0,8 Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag reichten aus. Zu wenige Proteine zu sich zu nehmen, sei genauso schädlich wie zu viele. Wer älter als 65 ist, braucht mehr Proteine – wie Eier, Milch oder Käse. Gesättigte Fette sind möglichst zu meiden, kurzkettige Kohlenhydrate möglichst auch. Gegessen wird idealerweise nur zweimal pro Tag, also »kein Snacking zwischendurch und Zucker seit zwanzig Jahren schon gar nicht«, plauderte Ruge aus dem Nähkästchen bei der zurückliegenden Expopharm in München.
Auch gezielter Sport hat den Alterungsprozessen etwas entgegenzusetzen. Der Muskel verliert etwa ab 60 Jahren jedes Jahr ein bis drei Prozent seiner Leistungsfähigkeit. »Das hängt mit der nachlassenden Funktion der Mitochondrien zusammen, mit schwindenden muskelaufbauenden Hormonen wie Wachstumshormon IGF-1 und Testosteron, mit dem Abbau der motorischen Endplatten und der nachlassenden, unpräziseren Innervierung der Muskeln«, führt die Biologin aus.
Ruge weist daraufhin, dass vor allem Muskelfasern des schnellen, sogenannten weißen Typs verlorengehen, also derjenige Muskelfasertyp, der kräftige Kontraktionen ermöglicht, der hüpfen, springen und einen Sturz verhindern hilft. Die roten Muskelfasern sind dagegen unsere Alltags-Ausdauer-Muskeln, die jeden Tag für uns aktiv sind. Sie sorgen für unsere Haltung. Weil sie sehr sauerstoffreich versorgt sind, sind sie rot. Sie sprechen auf Reize langsamer an, haben eine längere Kontraktionszeit, ermüden aber auch sehr viel langsamer.
Dies gelte es mit einem angepassten Training zu berücksichtigen. Der Unterschied im Training besteht darin, dass man die weißen Muskelfasern nur mit hohen Lasten aktivieren kann und die roten mit niedrigen Aktivitäten. »Wenn wir joggen, trainieren wir die roten Muskelfasern. Damit betreiben wir Kardiotraining. Die weißen Muskelfasern bleiben jedoch unerreicht und bauen sich deshalb ab. Diese gilt es, mit einem klassischen Krafttraining zu fordern. Dabei muss es wirklich brennen«, rät Ruge. Nur wer mindestens zwei- dreimal pro Woche an Maschinen, mit Gewichten oder Bändern arbeitet, begegne dem altersbedingten Muskelabbau effektiv.
Immer schön geschmeidig bleiben: Die richtige Kombination aus Ausdauer- und Kraftsport erhält die unterschiedlichen Muskelfasertypen. / Foto: Getty Images/Cecilie_Arcurs
Das Schwinden von Muskelmasse und Muskelkraft zieht ein anderes Übel nach sich: Der tägliche Kalorien-bedarf nimmt stetig ab. »Je älter wir werden, desto weniger Kalorien täglich werden verbraucht, auch wenn wir dagegen antrainieren. Schätzungsweise ab dem 60. Lebensjahr sinkt er pro Jahr um so viele Kilokalorien wie das Körpergewicht in Kilogramm. Deshalb: Je älter wir werden, desto weniger sollte man essen.«
Beruhigend ist dagegen Ruges Hinweis, dass es nie zu spät für eine Trendwende ist. »Freilich ist ein Mensch im Vorteil, der bereits in jungen Jahren intensiver Sport betrieben und sich gesund ernährt hat. Aber Trainingseffekte können auch frappierend sein, wenn sie erst mit 50, 60 oder 70 einsetzen. Natürlich spielt auch der Ausgangspunkt eine Rolle. Trainierte 70-Jährige erreichen mit ein bisschen Bewegung gar nichts. Die Muskelkraft eines untrainierten 70-Jährigen lässt sich dagegen mit systematischem Krafttraining um bis zu 38 Prozent steigern.«
Im Kampf gegen die Zellalterung setzt die Wissenschaftsjournalistin neben einer seit 15 Jahren andauernden niedrig dosierten Therapie mit bioidentischen Hormonen auch auf Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente. »Da beim Älterwerden viele Stoffwechselprozesse langsamer und ineffizienter laufen, dürfte es sinnvoll sein, einige der Wirkstoffe zuzuführen, vorrangig die, die ab dem 40. Lebensjahr absinken. Auch wenn wir deren Wirkungsspektrum in den komplexen molekularbiologischen Systemen zum Teil nur ansatzweise kennen, ist die Vermutung begründet, dass bestimmte Nahrungsergänzungen wirken könnten – vor allem in Kombination mit Kalorienrestriktion und Sport.«
Zu den größten Hoffnungsträgern zählen laut internationalen Forschungsergebnissen Niacin und seine Wirkstofffamilie, also sämtliche Verwandte rund um das »Energiemanagementmolekül NAD+/NADH«. Zwar sei der Nachweis für ein längeres Zellleben noch nicht erbracht, aber seine Funktion habe eine biochemische Logik. »Wenn der NAD+-Spiegel altersbedingt ab 40 Jahren absinkt – was er unweigerlich tut –, können die Sirtuine weniger gut arbeiten. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass in den Mitochondrien für die ATP-Produktion NAD+ absolute Voraussetzung ist, dann nehme ich das doch in Form seiner Vorläufermoleküle!«
Ruge bezeichnet NAD+ als Energiepaketträger, der die Energie für mehr als 500 chemische Reaktionen in der Zelle liefert und Lieferdienste in sämtlichen unserer mehr als 37 Billionen Zellen ausführt. Es ist also die zentrale Schaltstelle der Zellatmung in den Mitochondrien. NAD+ nimmt Energie aus dem Nährstoffabbau auf und wird dabei zu NADH, was wiederum die Kleinstbatterien ATP – essenziell für den Zellstoffwechsel - auflädt. Zudem ist NAD+ grundlegend für NAD-konsumierende Enzyme, allen voran die Sirtuine. Ruge erklärt: »Die Sirtuine können nur arbeiten, wenn genügend NAD zur Verfügung steht. Sie arbeiten mit NAD-Bruchstücken, um die Chromosomen zu deacetylieren, also um bestimmte Proteine anzuregen. In den Mitochondrien können sie zum Beispiel die Abwehr von oxidativem Stress stimulieren.«
Da aufgrund seiner schlechten Bioverfügbarkeit NAD+ selbst nicht substituiert werden kann, rät Ruge zu Vorstufen wie Vitamin B3 (Niacin, Nicotinsäure), NR, NA, NMN oder NAM. Sie selbst hat sich für Nicotinamid-Ribosid (NR) in Kapselform entschieden, da es über das Zwischenprodukt NMN direkt die NAD+-Produktion erhöhen kann und keine Sirtuine hemmt. Es verursacht keine Flushes und ist besser nierenverträglich als die anderen Vorstufen. »Derzeit explodieren die Studien zu NR beziehungsweise NAD+. Es ist dabei, den Markt an Nahrungsergänzungsmitteln auch hierzulande aufzurollen. Die Forschung geht dahin, NR mit einem Proton zu versehen, um einerseits eine längere Verweildauer im Körper und andererseits einen intensiveren Energieboost zu erzielen.«
Ähnlich wichtig für die ATP-Produktion in den Mitochondrien ist Coenzym Q10 (Ubiquinon). Sein Manko ist Ruge zufolge die mangelnde Bioverfügbarkeit von lediglich 2 Prozent. Sie rät, auf spezielle Formulierungen wie etwa eine Cyclodextrin-Ummantelung, Micellierung oder liposomale Beschichtung zu achten. Das bringe eine bis zu 18-fach höhere Bioverfügbarkeit. Ruge: »Der Markt mit Nahrungsergänzungsmitteln ist ein Cowboymarkt und mit der Kneifzange anzufassen. Hier bin ich ein großer Fan von Apotheken mit ihrem pharmazeutischen Sachverstand.«
Auch das Polyamin Spermidin gehört zu den neuen Lieblingen der Longevity-Anhänger. Ruge spricht von belastbaren Hinweisen, dass Spermidin auf eine vielfältige sanfte Weise die Langlebigkeit und auch die Gedächtnisleistung fördern kann. »Spermidin ist für unseren Stoffwechsel sehr wichtig. Es ist ein im gesamten Pflanzen- und Tierreich nicht weggemendelter Wirkstoff, der sanft die Autophagie anschiebt und zwar auch in Zellen, deren Autophagiekompetenz bereits deutlich abgesunken ist. Aber es ist keine Wunderdroge«, stellt Ruge klar.
Spermidin wird zu etwa einem Drittel – rund 12 Milligramm pro Tag – mit der Nahrung aufgenommen. Zu einem weiteren Drittel produziert es der Körper selbst und den Rest stellen die Darmbakterien her. Dennoch sinken ab dem 40./45. Lebensjahr die Serum-Spermidin-Spiegel ab. Über effektive Mengen zur Substitution scheiden sich die Geister. Während die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA als Höchstdosis pro Tag 6 mg ansetzt, raten Verbraucherzentralen von Spermidin zur Nahrungsergänzung ab. Die in Kapseln häufig angebotenen 1 Milligramm sind laut einer aktuellen Studie zur Kognition nicht ausreichend, berichtet Ruge. Deshalb setzt sie auf Spermidin-Kuren, in denen sie täglich 3 mg in Form von Pulver zuführt. Dazu nimmt sie Metformin ein, »ein stärkeres Fasten-Mimetikum als Spermidin«.
Sehen Sie dem Altern mit einer gewissen Furcht entgegen, Frau Ruge? »Ich habe davor eine große Ehrfurcht. Je mehr über unsere Zellphysiologie bekannt wird, was dabei mit den Jahren aus dem Gleis gerät und man sich nüchtern die Coolness der Evolution bewusst macht, die uns ab 30/40 auf Altern und Tod programmiert hat, desto mehr arbeite ich daran. Ich möchte mich dem Altern auch mental stellen mit einer großen Entspanntheit. Was ich tun kann, tue ich. Und ich tue viel, vor allem was Ernährung angeht. Aber ich muss lernen, dass das Ende unerbittlich auch für mich gilt.«
Anfang April erscheint Nina Ruges viertes Buch zum gesunden Altern. Im »Der Verjüngungsplan« geht sie der Frage nach, welche Gemüse- und Obstsorten, welche Kräuter, Nüsse und Samen besonders gesund sind. Was ist über deren Inhaltsstoffe bekannt? Welches enthält die meisten sekundären Pflanzenstoffe? Was bringt was? Dazu hat der auf pflanzliche Inhaltsstoffe spezialisierte Lebensmittelchemiker Professor Dr. Gunter Eckert die Hitliste der gehaltvollsten Gemüse-, Obst- und Hülsenfruchtsorten erstellt. Und der vegetarische Spitzenkoch Stephan Hentschel hat daraus alltagstaugliche und einfach nachzukochende Rezepte kreiert. Keines erfordert mehr als höchstens eine halbe Stunde Vorbereitung.