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Psyche und Pandemie

Probleme unter dem Brennglas

Immer mehr empirische Daten und Studien zeigen: Heranwachsende könnten die psychischen Folgen der Covid-19-Pandemie noch viele Jahre lang spüren. Die Diplom-Psychologin und Buchautorin Elisabeth Raffauf berät Eltern und Jugendliche in Erziehungsfragen.
Ulrike Abel-Wanek
22.10.2021  18:00 Uhr

PZ: In Ihrer psychologischen Praxis in Köln beraten Sie Jugendliche und Eltern. Wie hat sich Ihre Arbeit in den letzten eineinhalb Jahren verändert?

Raffauf: Am Anfang der Pandemie herrschte große Zurückhaltung bei den Menschen, überhaupt zu kommen. Und digital miteinander in Kontakt zu treten, scheiterte häufig daran, dass es in den meisten Wohnungen keinen Rückzugsraum gab, um ungestört reden zu können. Nach einem halben bis drei viertel Jahr fingen die Jugendlichen und Eltern aber an, mir quasi die Praxis einzurennen. Das hält bis heute an und nimmt noch weiter zu.

PZ: Wie wissen Eltern und Jugendliche, bei welchen Problemen man professionelle Unterstützung braucht?

Raffauf: Zunächst bekommen Eltern mit, dass es den Kindern überhaupt nicht gut geht. Dass sie entweder viel weinen, sich zurückziehen, nicht mehr richtig essen oder sich sogar ritzen, das ist bei jungen Mädchen nicht selten. Wenn man sich Sorgen macht und merkt, dass man trotz eigener Bemühungen selber nichts verändern kann, sollte man sich Hilfe von außen holen.

Die Jugendlichen litten hauptsächlich darunter, dass sie ihre Freunde nicht mehr sehen konnten und sich fragten: Sind das noch meine Freunde, wenn Corona vorbei ist? Einsamkeit, Verlustangst und Isolation waren und sind große Themen in der Jugendlichenberatung.

PZ: Viele Jugendliche sind einigermaßen gut durch die Zeit der Pandemie gekommen, andere wiederum nicht. Warum?

Raffauf: Die Coronapandemie und die durch sie bedingten starken Veränderungen des alltäglichen Lebens haben großen Einfluss auf die psychische Gesundheit bei Heranwachsenden, insbesondere dann, wenn vorher in ihrem Leben schon etwas nicht gut lief. Die Coronakrise ist wie ein Brennglas bei Themen, die oft schon da waren.

PZ: Welche Themen zum Beispiel?

Raffauf: Wenn es vorher schon psychische Erkrankungen oder familiäre Konflikte gab, durch zum Beispiel die Trennung der Eltern oder wenn es Gewalterfahrungen und Stigmatisierungen durch Armut gab, ist die Toleranz für weitere Belastungen gering. Psychische Belastungen durch Covid-19 sind nur die Spitze des Eisbergs. Mehrfache Pandemie-Wellen, wochenlange Lockdowns, die Schließung der Schulen, der Wegfall von Freizeitmöglichkeiten und Kontaktsperren zu Freunden und Familie verstärken Gefühle von Mutlosigkeit und Perspektivlosigkeit und führen unter anderem dazu, dass sich die Menschen zurückziehen. Die Pandemie hat vielen Kindern und Jugendlichen ihre Sorglosigkeit und Entfaltungsfreiheit genommen. Das sind prägende Erfahrungen, die nicht von heute auf morgen wieder verschwinden.

Auch den Eltern ging es nicht gut durch die Überforderung von Homeschooling oder finanzielle Unsicherheiten. Existenznöte spüren die Kinder, ohne dass Eltern sie thematisieren. Grundsätzlich gab es kein Ausweichen und kein Rausgehen, um sich mit anderen auszutauschen und zu entlasten. Dieses Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Sein erzeugt großen Druck. Es fehlte einfach ein Ventil, um von den Schwierigkeiten zu Hause auch mal wegzukommen, für Eltern wie für die Kinder.

PZ: Was raten Sie Eltern, deren Kinder verstört wirken und sich zurückziehen? Laut einer Unicef-Umfrage fühlt sich einer von vier Befragten in Deutschland zwischen 15 und 24 Jahren deprimiert*.

Raffauf: Es ist wichtig zu zeigen, dass man versteht, was die Kinder vermissen. Dass man signalisiert: Dein Gefühl ist richtig, es ist normal, dass du genervt bist und ich als Vater oder Mutter bin ansprechbar dafür. Klappt es mit dem Sprechen nicht so gut, sollte man etwas miteinander machen, gemeinsam etwas unternehmen, auf jeden Fall aber in Kontakt bleiben. Vielleicht gibt es auch jemanden in der Familie oder im Freundeskreis, dem gegenüber sich das Kind öffnet, zu dem es großes Vertrauen hat. Es müssen nicht immer die Eltern sein. Aber Eltern können den Weg frei machen.

Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie wirklich viel geleistet – und selber zurückgesteckt. 83 Prozent von ihnen haben die Coronaregeln eingehalten, um die Älteren zu schützen. Das muss man anerkennen.

PZ: Krisen haben ja auch das Potenzial, gestärkt daraus hervorzugehen und Resilienz auszubilden. Wie kann man Kinder und Jugendliche hier unterstützen?

Raffauf: Indem man sagt: Mensch, das hast du geschafft! Durch Krisen zu kommen, ist viel schwieriger als durch normale Zeiten, aber man lernt auch mehr und wird kreativ. Wie kann ich Oma Briefe schreiben, um in Kontakt zu bleiben? Wie kann ich mir zu Hause Struktur geben? Wie funktioniert das mit dem E-Learning? Das muss man alles erstmal schaffen. Es ist wichtig, dass Erwachsene das anerkennen und den Kindern auch zurückmelden. Das ist mehr wert, als zehn weitere französische Vokabeln zu können.

Wenn in der Schule nun alle wieder so schnell wie möglich leistungsmäßig »auf den Stand« gebracht werden sollen, greift auch das zu kurz. So nachhaltige Erfahrungen von Ausgeliefertsein hakt die Seele nicht einfach ab. Menschen, die schwierige Situationen erleben – und das ist bei einigen Kindern während der Pandemie der Fall gewesen – zeigen vielleicht erst nach einem halben Jahr oder später Reaktionen darauf. Wenn Kinder und Jugendliche sich dann auffällig verhalten, sollte man das im Hinterkopf haben und nicht sofort mit Sanktionen drohen. 


Fußnote *) Umfrage von Unicef und des Meinungsforschungsinstituts Gallup im Sommer 2021

 

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