Privatrezept-Häufung bei Cannabis ist »Offenbarungseid« |
Cornelia Dölger |
04.07.2024 15:30 Uhr |
Die Verschreibung von Cannabis unterliegt seit der Teilfreigabe am 1. April nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz. / Foto: Getty Images/Heath Korvola
Die Verschreibung von Cannabis unterliegt seit der Teilfreigabe am 1. April nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz. Offenbar gibt es seitdem immer mehr Start-ups, die eine digitale Beratung mit Ärzten vermitteln, die Medizinalcannabis verschreiben, auch wenn weniger schwerwiegende Krankheiten vorliegen. Das Geschäft wachse rasant, berichtet jetzt das Online-Portal des Senders n-tv unter Bezug auf Unternehmen aus der Branche.
Das besorgt Bundestagsabgeordnete aus SPD und Union. »Wir beobachten, dass es auf einmal Online-Plattformen gibt, auf denen man, wenn man genug Dinge wie Schlafstörungen, Depressionen angibt, sofort ein Rezept ausgestellt bekommt, ohne einmal einen Arzt persönlich gesehen zu haben«, sagte SPD-Innenpolitikerin Carmen Wegge dem Portal. Sie betonte: »Das war nicht die Absicht des Gesetzgebers, um das sehr deutlich zu sagen.«
Für die Union wäre dies ein »Offenbarungseid der Ampelparteien, wenn sie auf diesem Weg eine kommerzielle Abgabe von Cannabis über die Hintertür ermöglicht haben«, wie das Portal den gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge, zitiert.
Sorge demnach weiter: »Das entspricht einer vorsätzlichen Täuschung der Öffentlichkeit, wenn die Ampelkoalition einen Graumarkt geschaffen hat und duldet, in dem der Cannabisbedarf durch Medizinalcannabis zur Behandlung angeblicher Krankheiten gedeckt wird.«
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) wiederum sieht die Heilberufe in Zugzwang, etwaigen Missbrauch zu verhindern. Laut dem Portal ließ das BMG wissen, dass Ärzte einer »missbräuchlichen Verwendung ihrer Verschreibung keinen Vorschub leisten« dürften. Auch Apotheken seien gesetzlich verpflichtet, Missbrauch zu verhindern. Hier sei das BMG außen vor, weil es das Verschreibungsverhalten der Ärzte nicht überwachen könne und dürfe. Vielmehr seien auch die Überwachungsbehörden der Länder gefragt.
Das Interesse an Medizinalcannabis auf Rezept, möglicherweise auch ohne entsprechende medizinische Indikation, ist nicht neu. So berichtete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor Kurzem für das Jahr 2021 von auffällig starker Cannabisabgabe auf Privatrezept. Ausgewertet wurden Rezepte von zehn Apotheken, die in dem Jahr die größten Mengen Cannabisblüten abgegeben haben.
Bemerkenswertes Ergebnis: Von 2020 auf 2021 stieg die Zahl der GKV-Verordnungen von Medizinalcannabis um etwa zehn Prozent, während die tatsächlich in Apotheken abgegebene Menge an Cannabisblüten um mehr als 40 Prozent hochschnellte. Die Schlussfolgerung: Diese Diskrepanz lässt sich nur durch deutlich mehr privatärztliche Verschreibungen, besonders von Cannabisblüten, erklären.
Konkret zeigte sich in der Untersuchung, dass auf 6812 (96,3 Prozent) der 7075 ausgewerteten Rezepte Cannabisblüten verschrieben worden waren. Mehr als zwei Drittel (70,6 Prozent) der Verordnungen waren demnach Privatrezepte. Die meisten Verschreibungen kamen von Hausärzten.
Was obendrein herauskam: Die meisten Verordnungen (83,2 Prozent) wurden für Männer ausgestellt, von denen nahezu ein Drittel (30,6 Prozent) nicht älter als 30 Jahre war. Der Altersdurchschnitt der Patientinnen und Patienten lag bei 39 Jahren.
Medizinalcannabis darf seit 2017 verschrieben werden. Ziel sei, dass Schwerkranke mit entsprechend nachgewiesener Diagnose, bei denen andere Therapien nicht greifen, auf GKV-Rezept mit Medizinalcannabis versorgt werden können. »Schwerkranke Menschen müssen bestmöglich versorgt werden. Dazu gehört, dass die Kosten für Cannabis als Medizin für Schwerkranke von ihrer Krankenkasse übernommen werden, wenn ihnen nicht anders wirksam geholfen werden kann«, hatte der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) zum Inkrafttreten des Gesetzes »Cannabis als Medizin« am 10. März 2017 gesagt.
Diese Begrenzung ist allerdings auf GKV-Rezepte beschränkt. Darauf wiesen die Autoren der BfArM-Erhebung noch einmal hin. Dies sowie der hohe Männeranteil und das niedrige Durchschnittsalter legten nahe, dass in vielen Fällen eine Versorgung mit Cannabisblüten erfolgt, die der Gesetzgeber so nicht bezweckt habe, so die Schlussfolgerung.