Neuer Therapieansatz mit SYK-Inhibitor |
Kerstin A. Gräfe |
06.08.2020 07:00 Uhr |
Bei der seltenen Bluterkrankung chronische Immunthrombozytopenie ist das Gleichgewicht zwischen Bildung der Thrombozyten im Knochenmark und ihrem Abbau in der Milz gestört. / Foto: Getty Images/AlSimonov
In Deutschland sind etwa 16.000 Menschen von chronischer Immunthrombozytopenie (ITP) betroffen. Bei diesen Patienten greift das Immunsystem die körpereigenen Blutplättchen an. Häufige Symptome sind übermäßige Blutergüsse und Blutungen. Betroffene leben mit einem erhöhten Risiko für schwere Blutungsereignisse, die zu schweren medizinischen Komplikationen oder sogar zum Tod führen können.
Zu den derzeitigen Therapien gehören zum Beispiel Steroide, die Förderung der Blutplättchenproduktion (TPOs) und die Splenektomie. Fostamatinib (Tavlesse® 100 und 150 mg Filmtabletten, Grifols) ist ein Prodrug. Der Hauptmetabolit R406 blockiert die Aktivität des Enzyms Milz-Tyrosinkinase (SYK). SYK ist ein Signaltransduktionsmodulator und spielt eine wichtige Rolle bei der Aktivierung des Immunsystems in Makrophagen, Neutrophilen sowie Mast- und B-Zellen. R406 hemmt die Signaltransduktion der B-Zell-Rezeptoren sowie der Fc-aktivierenden Rezeptoren und reduziert die durch Antikörper vermittelte Zerstörung der Thrombozyten.
Die Dosierung von Fostamatinib richtet sich nach der Thrombozytenzahl des Patienten und muss individuell abgestimmt werden. Es sollte die niedrigste Dosis verwendet werden, um eine Thrombozytenzahl von mindestens 50.000/µl zu erzielen und beizubehalten. Die Dosisanpassungen basieren auf dem Ansprechen der Thrombozytenzahl und der Verträglichkeit.
Die empfohlene orale Anfangsdosis beträgt zweimal täglich 100 mg. Nach der Ersteinnahme kann die Dosis nach vier Wochen basierend auf der Thrombozytenzahl und der Verträglichkeit auf 150 mg zweimal täglich erhöht werden. Eine tägliche Gesamtdosis von 300 mg darf nicht überschritten werden. Steigt die Blutplättchenzahl nicht ausreichend an, wird die Behandlung nach zwölf Wochen abgebrochen.
Bei mit Fostamatinib behandelten Patienten wurde ein erhöhter Blutdruck beobachtet. Er muss deshalb alle zwei Wochen überwacht werden, bis er stabil ist, danach monatlich. Zudem traten leichte bis mittelstarke Erhöhungen der Leberenzyme ALT und AST auf. Es wird empfohlen, die Werte monatlich zu überprüfen.
Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählt Durchfall; bei 1 Prozent der Patienten trat ein schwerwiegender Durchfall auf. Die Patienten sollten dahingehend überwacht und früh nach dem Auftreten von Symptomen mittels unterstützender Maßnahmen wie Ernährungsumstellung, Flüssigkeitszufuhr und/oder Arzneimittel gegen Durchfall behandelt werden. Des Weiteren wurden in den Studien vermehrt Neutropenien gemeldet. Die absolute Neutrophilenzahl sollte monatlich überwacht werden. Da Patienten mit Neutropenie anfälliger für Infektionen sein können und diese unter Fostamatinib verstärkt auftraten, sollten die Patienten diesbezüglich überwacht werden.
Die gleichzeitige Einnahme von Fostamatinib mit starken CYP3A4-Induktoren wird nicht empfohlen, da sie den Blutspiegel des aktiven Hauptmetaboliten senkt, sodass die Wirksamkeit verringert ist. Entsprechendes gilt für die gleichzeitige Anwendung von starken CYP3A4-Inhibitoren, da dadurch die Blutspiegel von R406 steigen und somit das Risiko für Nebenwirkungen. Fostamatinib kann bei gleichzeitiger Gabe den Wirkspiegel von Arzneimitteln, die Substrat von CYP3A4, BCRP oder P-gp sind, erhöhen.
Da sich die SYK-Hemmung potenziell auf die Thrombozytenaggregation auswirken kann, sollte die antikoagulierende Wirkung gegebenenfalls überwacht werden, wenn Antikoagulanzien mit einem engen therapeutischen Index zusammen mit Fostamatinib verabreicht werden.
Frauen dürfen den Kinasehemmer während der Schwangerschaft nicht einnehmen. Das Stillen sollte während der Behandlung mit Fostamatinib und mindestens einen Monat lang nach der letzten Dosis unterbrochen werden. Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandlung und für mindestens einen Monat nach der letzten Dosis eine effektive Verhütung anwenden.
Die Zulassung basiert auf den Daten zweier randomisierter, doppelblinder, placebokontrollierter Phase-III-Studien (NCT02077192 und NCT020771928) an 150 Patienten mit therapieresistenter ITP. Diese erhielten randomisiert im Verhältnis 2 zu 1 entweder Fostamatinib oder Placebo über einen Zeitraum von 24 Wochen. Primärer Endpunkt war das stabile Thrombozytenansprechen (mindestens 50.000/µl bei mindestens vier von sechs Besuchen zwischen den Wochen 14 und 24).
Bei den meisten Respondern (11 von 17) wurde innerhalb von sechs Wochen eine anfängliche therapeutische Reaktion (Thrombozytenzahl ≥ 50.000/µl) beobachtet und innerhalb von zwölf Wochen bei allen stabilen Respondern. Unter den Patienten, die stabile Responder waren, erhöhte sich die mediane Thrombozytenzahl auf 95.000/µl mit einer maximalen Anzahl von 150.000/µl. Eine Rettungstherapie war bei 30 Prozent der Patienten in der Fostamatinib-Gruppe und bei 45 Prozent der Patienten in der Placebogruppe erforderlich.
Häufige Nebenwirkungen (≥ 5 Prozent und häufiger als Placebo) waren Durchfall, Bluthochdruck, Übelkeit, Schwindel, ALT und AST erhöht, Atemwegsinfektionen, Ausschlag, Bauchschmerzen, Müdigkeit, Brustschmerzen und Neutropenie.
Nicht alle Patienten mit chronischer Immunthrombozytopenie (ITP) sprechen auf die bestehenden Therapiemöglichkeiten ausreichend an. Nach wie vor besteht somit ein medizinischer Bedarf an zusätzlichen Behandlungsmöglichkeiten für diese Patienten. Das nicht für die Erstlinien-, sondern ab der Zweitlinien-Therapie zugelassene Fostamatinib ist damit durchaus als therapeutischer Fortschritt in der ITP-Therapie zu bewerten und kann vorerst als Schrittinnovation angesehen werden.
Einen direkten Vergleich mit anderen ITP-Medikamenten gibt es leider nicht. Festzuhalten bleibt, dass Fostamatinib mit der Milz-Tyrosinkinase (Spleen Tyrosine Kinase, Syk) aber ein neues Target bei der ITP adressiert. Die Studienergebnisse zeigen, dass das Wirkprinzip funktioniert. Bislang sind noch nicht sehr viele Patienten in Studien mit Fostamatinib behandelt. Nach den bisherigen Daten trägt der Wirkstoff – anders als andere ITP-Medikamente - kein erhöhtes Thromboembolierisiko.
Möglicherweise könnte Fostamatinib auch eine potenzielle Therapieoption bei rheumatoider Arthritis darstellen. Man darf gespannt sein, welche Karriere dieser Arzneistoff noch nehmen wird.
Sven Siebenand, Chefredakteur