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Evidenzbasierte Analyse

Milch ist überbewertet

Milch polarisiert. Für die einen ist sie ein unverzichtbares, da hochwertiges Lebensmittel, die anderen schätzen Milch genau gegenteilig, ja sogar als gesundheitsschädlich, ein. Eine kritische, auf empirischer Evidenz basierende Betrachtung der Bedeutung von Milch wurde jetzt im »New England Journal of Medicine« veröffentlicht.
Theo Dingermann
17.02.2020  09:24 Uhr

Kuhmilch enthält eine komplexe Mischung von wachstumsfördernden Faktoren, Makro- und Mikronährstoffen. Allerdings ist Milch keineswegs die einzige Quelle derartiger Nährstoffe. Dies wirft die Frage auf, ob Milch tatsächlich ein so wertvolles Lebensmittel ist, wie dies vielfach angenommenen wird.

Bei Erwachsenen spricht die Gesamtevidenz eher gegen diesen Schluss, berichtet ein Team um Dr. Walter Willett von der Harvard University in Boston. Selbst als Prophylaktikum von Knochenbrüchen oder Osteoporose, wo der Milch wegen der relativ hohen Calcium-Konzentration der höchste Nutzen attestiert wird, lässt sich dieser Anspruch nicht halten, wenn man Evidenz zugrunde legt. Denn paradoxerweise weisen die Länder mit dem höchsten Milchkonsum tendenziell die höchsten Raten von Hüftfrakturen auf.

Obwohl diese Korrelation möglicherweise nicht kausal ist und durch Faktoren wie den Vitamin-D-Status und die ethnische Zugehörigkeit verzerrt sein könnte, ist ein niedriger Milchkonsum keineswegs mit hohen Raten von Hüftfrakturen assoziiert. Zwar findet man durchaus Studien, die diesen Schluss nicht stützen. Diese Studien sind jedoch alle auf einen zu kurzen Zeitraum ausgelegt, wie die Autoren kritisch anmerken.

Auch besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Gesamtmilchkonsum und der Gewichtskontrolle oder dem Risiko von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem macht es statistisch auch keinen Unterschied, ob man Voll- oder Magermilch konsumiert. Eventuell könnte Joghurt hier eine Ausnahme bilden. Frisch fermentierte Milchprodukte wie Joghurt scheinen als Quellen für Probiotika in der modernen westlichen Ernährung zu einem gewissen Grad vor Fettleibigkeit zu schützen, vielleicht weil sie sich günstig auf das Darmmikrobiom auswirken.

Steigt oder sinkt das Krebsrisiko?

Dagegen erhöht der Verzehr von großen Mengen Milchprodukten wahrscheinlich das Risiko, an Prostatakrebs, möglicherweise auch an Endometrium- und Brustkrebs, zu erkranken. Dies lässt sich eventuell dadurch erklären, dass ein hoher Milchkonsum mit erhöhten Plasmakonzentrationen des Insulin-like-Growth-Factors I (IGF-I) korreliert. Andererseits scheint das Risiko für Darmkrebs abzunehmen, was mit dem Calcium-Gehalt der Milch in Verbindung stehen könnte. Bei der Wichtung dieser Aussagen mahnen die Autoren allerdings zur Vorsicht, da fast alle prospektiven Studien an Personen mittleren oder höheren Alters durchgeführt wurden, wohingegen viele Krebsrisikofaktoren in der Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter ihre höchste Relevanz entfalten.

Zudem hängen natürlich die gesundheitlichen Auswirkungen von Milchprodukten stark mit den generellen Ernährungsgewohnheiten des Einzelnen zusammen. In vielen Fällen schneiden Milchprodukte gegenüber einem Verzehr von rotem Fleisch oder zuckergesüßten Getränken gut ab. Werden Milchprodukte jedoch auf Kosten von pflanzlichen Proteinquellen, beispielsweise Nüsse, konsumiert, hat dies negative Auswirkungen. Hinsichtlich der (geringen) Krebsrisiken, scheint es auch hier wiederum keinen Unterschied zu machen, ob Vollmilch- oder Magermilchprodukte konsumiert werden.

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