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Hilfen bei Regulationsstörung

Kleine Schreihälse

Galten vor einiger Zeit noch Dreimonatskoliken als Grund für häufige Schreiattacken im Säuglingsalter, haben Blähungen und Luft im Bauch als Erklärungsversuch ausgedient. Experten sehen das Schreien eher als Ausdruck einer verzögerten Verhaltensregulation.
Elke Wolf
28.08.2020  07:00 Uhr

Nichts hilft: kein Stillen, kein Herumtragen, kein Schmusen. Das Baby schreit und schreit, vornehmlich in den Abendstunden. Dabei war kurz zuvor noch alles in bester Ordnung. Von jetzt auf gleich ist es durch nichts zu beruhigen. Die Kleinen ballen die Fäustchen zusammen, spannen scheinbar alle Muskeln, überstrecken sich mitunter und haben oftmals einen harten, geblähten Bauch. Der Kopf ist vom Schreien hochrot.

Einst machte man die Luft im Bauch für das Schreien verantwortlich, weil sie Bauchschmerzen und Blähungen verursacht. Auch heute ist oft noch von Dreimonatskoliken als Auslöser die Rede. Tatsächlich zeigen Untersuchungen keinen Unterschied der Gasmenge im Darm zwischen gesunden und Schreibabys, teilt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) mit. Die Luft komme vielmehr erst während der Schreiattacken in den Bauch. Nur einem Teil der Kinder bringen dann auch ätherische Öle, Tees und Entschäumer-Tropfen mit Simeticon Linderung. Viel effektiver sei die Beruhigungsstrategie. Die genannten Hilfsmittel können jedoch dabei eingebunden werden, wie etwa eine Bauchmassage mit Fenchel-, Anis- oder Kümmelöl.

 

Folgende Beruhigungsmaßnahmen hält der BVKJ für hilfreich:

  •  Das Baby hochnehmen und herumtragen. Studien zeigen dabei, dass Kinder, die bereits im ruhigen Zustand vermehrt getragen werden, bei den Schreiattacken auch weniger weinen. Herumtragen als Reaktion auf das Schreien ist dagegen als Beruhigungsmittel weniger geeignet.
  • Körperkontakt
  • Wiederholung von Bewegungen oder Geräuschen
  • Dinge in bestimmten Rhythmen wiederholen (etwa Lieder singen)
  • Gewisser Geräuschpegel, der von Menschen erzeugt wird (Tür vom Kinderzimmer leicht öffnen, sodass das Baby die Stimmen der Eltern durch den Türspalt hört).
  • In seltenen Fällen können eine Milch(Eiweiß)-Unverträglichkeit oder ein gastro-ösophagealer Reflux die Ursache für die Schreiattacken sein.
  • Andere Ursachen wie Mittelohrentzündung oder Leistenbruch vom Kinderarzt klären lassen.

Was den Kindern zu schaffen macht, so vermuten Wissenschaftler heute, ist das Leben an sich: Die Neuankömmlinge müssen eine Menge lernen, sie müssen viele Reize verarbeiten und einen Rhythmus finden zwischen Wachen und Schlafen, also Dinge lernen, die Fachleute als Selbstregulation bezeichnen. Die meisten Kinder schaffen das sehr gut. In den Wachphasen sind sie aufmerksam und schalten ab, wenn zu viel auf sie einstürmt. Sie sind in der Lage, sich selbst zu beruhigen, wenn alles zu viel wird. Sie nuckeln dann etwa am Finger oder am Schnuller.

Die anderen haben diese Entwicklungsphase noch nicht bewältigt. Deshalb sehen Wissenschaftler das Schreien als Ausdruck einer verzögerten Verhaltensregulation oder einer frühkindlichen Regulationsstörung. Dieser Theorie zufolge kann das Baby mit den Reizen, die aus seiner Umgebung oder seinem Körper kommen, mit Licht oder Lärm, mit dem Grummeln im eigenen Bauch noch nicht umgehen. Es ist noch nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen und selbst einzuschlafen. Warum das so ist, ist nicht geklärt.

Diese Regulationsstörungen wachsen sich aus und bleiben ohne Folgen, heißt es von Seiten des BVKJ. Denn im weiteren Verlauf ihres Lebens haben Schreibabys keine gesundheitlichen Einbußen im Vergleich zu ihren gesunden Altersgenossen zu erwarten, zeigen Untersuchen.

Als oberstes Prinzip nennt der BVKJ, in diesen Situationen Ruhe zu bewahren. Zudem sollten die Eltern aufgrund des aufkommenden Stresses nicht laufend von einer Beruhigungsmethode zur anderen wechseln. Der Frust und die Angespanntheit der Eltern übertragen sich so nur auf die kleinen Schreihälse. »Regulation« müsse das Kind selbst lernen, Eltern könnten diesen Prozess nur unterstützen.

 

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