Kants kritischer Blick auf die Arzneien |
Bereits 1797 hatte Kant in der Tugendlehre seiner Metaphysik der Sitten, noch im Kapitel zur Selbstentleibung (Paragraf 6) und vor der Selbstschändung (Paragraf 7), seine Impfskepsis erläutert [12]: »Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschließt, wagt sein Leben aufs Ungewisse: ob er es zwar tut, um sein Leben zu erhalten, und ist so fern in einem weit bedenklicheren Fall des Pflichtgesetzes, als der Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht macht, dem er sich anvertraut, stattdessen jener die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst zuzieht. Ist also Pockeninokulation erlaubt?« Dies sei moralisch »waghälsig« [13].
Befürchtete Nebenwirkungen der Vakzination, zugespitzt karikiert von James Gilroy (1802). / Foto: Imago Images/Photo12
Einige von Kants Studenten und wissenschaftlichen Korrespondenten gehörten zu den aktivsten Förderern der Vakzination, unter anderem Christoph Friedrich Elsner (1749 bis 1820), Michael Friedländer (1767 bis 1824), Johann Baptist Goldschmidt (1761 bis 1835), Christoph Friedrich Hellwag (1754 bis 1835), Johann Albert Reimarus (1729 bis 1814). »Ganz entgegengesetzter Meinung war er aber im ersten Anfange, als Dr. Jenner seine Erfindung der Kuhpocken bekannt machte, über den grossen Vorteil derselben fürs Menschengeschlecht. … meinte sogar, dass die Menschheit sich zu sehr mit dem Tier familiarisiere und der erstern eine Art von Brutalität (im physischen Sinne) eingeimpft werden könne. Er fürchtete ferner, daß durch Vermischung des tierischen Miasmas mit dem Blute, oder wenigstens mit der Lymphe, dem Menschen Empfindlichkeit für die Tierseuche mitgeteilet werden könnte. Endlich bezweifelte er auch, aus Mangel hinlänglicher Erfahrungen, die Schutzkraft derselben gegen die Menschenblattern. So wenig alles dieses einen Grund haben mochte, so war es doch angenehm, die verschiedenen Gründe für und wider abzuwägen« [5].
An Kant wurden weiterhin Fragen nach der Zulässigkeit der Vakzination gestellt, die er nicht mehr überzeugend zu beantworten vermochte [13]. Im Opus postumum finden sich vier widersprüchliche Fragmente, in denen er einerseits den Gedanken formuliert, Kriege und Pocken dienten der Bevölkerungskontrolle, andererseits aber meint, die Auswirkungen der Pocken seien gar nicht so gravierend [13]. Neben den philosophisch-moralischen Vorbehalten gab es zu jener Zeit gute Gründe, der Vakzination skeptisch zu begegnen, und diese wurden auch vonden aufgeschlossenen Ärzten eingeräumt: Komplikationen bei der Impfung, ein rasches Nachlassen der Wirksamkeit und Mängel in der Datenlage [13]. Posthum verlautete, seine Äußerungen wären zu »auffallend …, wenn man sie nicht als Beweise der Schwäche in seinem hohen Alter annehmen müsste« [8].