Oxidative Schäden bei neurodegenerativen Erkrankungen |
26.11.2001 00:00 Uhr |
Oxidativer Stress ist an der Entstehung chronisch neurodegenerativer Krankheiten und bei entzündlichen Erkrankungen des Zentralnervensystems beteiligt. Allerdings ist das Netzwerk aus primären und sekundären, räumlich und zeitlich definierten, intra- und extrazellulären Vorgängen bei der Pathogenese erst im Ansatz bekannt. Von einem umfassenden, gar kausalen Verständnis sind wir weit entfernt - ebenso wie von einer effektiven und gezielten antioxidativen Therapie. Dies gilt auch für ein neurologisches Krankheitsbild, bei dem die Beteilung freier Radikale und antioxidative Interventionsversuche mit am besten untersucht sind: Morbus Alzheimer.
Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Form der Demenz im Erwachsenenalter. Die Prävalenz steigt von etwa drei Prozent in der Altersgruppe von 65 bis 74 Jahre auf über 47 Prozent in der Altersgruppe über 85 Jahre. Beim Morbus Alzheimer sterben kontinuierlich kortikale Neuronen ab. Im Mikroskop sind extrazelluläre senile Plaques aus beta-Amyloid und hochmolekulare intrazelluläre Aggregate aus dem tau-Protein, die "neurofibrillary tangles" (NFTs), sichtbar. Die Schwere der Erkrankung korreliert mit dem Grad dieser pathologischen Veränderungen.
Das Auftreten einer oxidativen Zellschädigung ist bei der Alzheimer-Erkrankung gut belegt: So zeigen advanced glycation endproducts (51, 88, 92, 95), Nitrierungsprodukte (33, 89) und Addukte von Lipidperoxidationsprodukten (68, 83) im Hirngewebe von Alzheimer-Patienten die oxidative Schädigung zellulärer Proteine an. Aber radikalische Schädigungsprozesse sind schon innerhalb einer Zelle schwierig zu betrachten, da prooxidative und antioxidative Prozesse konsekutiv oder gleichzeitig, räumlich getrennt oder gemeinsam, verbunden oder unverbunden und unter Beteiligung von sehr vielen Komponenten ablaufen können. Sind nun verschiedene Zelltypen involviert, wie es bei inflammatorischen Prozessen bei primär neurodegenerativen Erkrankungen der Fall ist, wird die Gesamtbetrachtung des Geschehens noch komplexer.
Welche Initialereignisse den oxidativen Stress bei Morbus Alzheimer auslösen, ist noch unbekannt. Zu den möglichen primären Quellen zählt die intraneuronale Kumulation von Eisen- und Aluminiumionen (32, 84), die sich besonders stark in den NFTs geschädigter Neurone nachweisen lassen und die Bildung von hochreaktiven Hydroxylradikalen aus relativ stabilem Wasserstoffperoxid katalysieren. Weiterhin werden Schäden an der mitochondrialen Atmungskette als Frühereignis in der Pathogenese postuliert, vor allem eine reduzierte Cytochromoxidase-Aktivität (70) auf Grund von Schäden an der Proteinstruktur (74), die sowohl zur Reduktion der ATP-Synthese als auch zu erhöhter Sauerstoffradikalproduktion führt.
Primär entstehende freie Radikale treffen auf primäre antioxidative Schutzsysteme, die diese direkt entgiften. Bei Alzheimer-Patienten wurde bislang keine Beeinträchtigung dieser nicht-enzymatischen und enzymatischen Schutzsysteme beobachtet. Vielmehr wurden sogar eine Erhöhung der mRNA und gesteigerte Aktivitäten von Glutathion-Peroxidase, Glutathion-Reduktase und Katalase im Hirn der Patienten beschrieben (54). Weitere Studien zu Veränderungen der Schutzsysteme zeigen teilweise inkonsistente Ergebnisse, vor allem bei der Cu/Zn-Superoxiddismutase und Mn-Superoxiddismutase (61). Nach dem jetzigen Stand der Erkenntnisse kann man davon ausgehen, dass der oxidative Stress bei Morbus Alzheimer wahrscheinlich nicht durch einen Aktivitätsverlust enzymatischer antioxidativer Schutzsysteme bedingt ist.
Lipide unter oxidativem Beschuss
Freie Radikale reagieren meistens sofort mit unmittelbar benachbarten zellulären Strukturen wie Lipiden, Proteinen und Nukleinsäuren. Der Reaktion mit poly-ungesättigten Fettsäuren in Lipidmembranen kommt dabei besondere Bedeutung zu, da dadurch eine Lipidperoxidation ausgelöst wird. Am Ende dieser radikalischen Kettenreaktion entstehen relativ stabile Lipidperoxidationsprodukte, die den Ort ihrer Entstehung verlassen und die primäre Radikalwirkung um ein Vielfaches verstärken können. In Hirnen von Alzheimer-Patienten wurden deutliche Zeichen einer gesteigerten Lipidperoxidation gefunden: eine Akkumulation von Lipidperoxidationsprodukten (61) und ein Verlust peroxidationsempfindlicher Fettsäuren im Hippocampus (77).
Darüber hinaus akkumuliert 4-Hydroxynonenal (60), ein Lipidperoxidationsprodukt, das neurotoxisch ist und über seine Reaktion mit Proteinen vielfältige regulatorische und pathologische Wirkungen entfalten kann (26). Da 4-Hydroxynonenal in der Lage ist, das tau-Protein zu vernetzen (68) und auch in NFTs von Alzheimer-Patienten nachweisbar ist (81), ist dieses Sekundärprodukt oxidativen Stresses vermutlich direkt an den typischen intraneuronalen Veränderungen beteiligt. Zudem ist bei Morbus Alzheimer eine Glutathion-Transferase in ihrer Aktivität reduziert, die für die Entgiftung des 4-Hydroxynonenals verantwortlich ist (56). Marker der Lipidperoxidation lassen sich auch im Liquor cerebrospinalis nachweisen (55, 68).
Oxidierte Proteine und AGE-Substanzen
Letztlich ist die funktionelle Schädigung der Neuronen wahrscheinlich auf die Reaktion freier Radikale oder ihrer Sekundärprodukte mit zellulären Proteinen zurückzuführen, wodurch die Funktion von Enzymen oder Strukturproteinen gestört oder aufgehoben wird (91). Diese oxidierten Proteine entstehen meist unmittelbar nach oxidativer Schädigung in Neuronen (97), da diese Zellen nur über eine geringe antioxidative Primärabwehr verfügen. Bei den Patienten sind Zeichen einer erhöhten Proteinoxidation im Frontallappen (87) und im Hippocampus (41) direkt in den NFTs nachweisbar, nicht aber in Neuronen ohne NFTs (89). Außerdem wurde eine verminderte Aktivität der Glutamin-Synthetase, ein besonders oxidationsempfindliches Enzym (91), im Hippocampus und Neocortex gefunden (87). Über einen reduzierten Glutamat-Turnover und eine in Folge verlängerte NMDA-Rezeptoraktivierung kann es in den betroffenen Neuronen zur exzitotoxischen Schädigung durch Übererregung exzitatorischer Glutamat-Rezeptoren kommen, in deren Folge wieder weitere Radikale produziert werden.
Proteinoxidationen sind aber nicht die einzigen pathologischen Proteinveränderungen beim Morbus Alzheimer, die direkt durch oxidativen Stress ausgelöst werden. Weitaus nachhaltigere intrazelluläre Konsequenzen hat die Bildung von "advanced glycation endproducts (AGEs)". Dies sind posttranslationale Proteinmodifikationen, die durch nicht-enzymatische Reaktion der N-terminalen Aminogruppe oder Lysin- und Argininseitenketten mit Monosacchariden entstehen. Das dabei gebildete Schiff-Base-Produkt lagert sich zu Protein-gebundenen Amadori-Produkten um, aus denen, katalysiert durch Übergangsmetallionen wie Eisen, durch Oxidation und Dehydratation über radikalische Intermediate AGEs entstehen. Diese sind in großer Zahl in senilen Plaques und NFTs nachweisbar (88).
Interessanterweise sind die AGEs nicht biologisch inert, sondern können durch Redox-Cycling weitere Sauerstoffradikale produzieren (95, 96) und eine Lipidperoxidation induzieren (95). Zudem binden sie an mikrogliale AGE-Rezeptoren (RAGE) und regen diese ebenfalls zur verstärkten Freisetzung von Sauerstoffradikalen an (96). Auch für das beta-Amyloidpeptid, aus dem die senilen Plaques bestehen, wird sowohl eine Funktion in der Produktion von Sauerstoffradikalen über Peptidylradikale (41) als auch eine rezeptorvermittelte Steigerung der intrazellulären Produktion von Sauerstoffradikalen (5) angenommen.
Auch an den Nukleinsäuren in Neuronen sind deutliche Schäden wie eine Verdoppelung von DNA-Strangbrüchen (69) und eine Erhöhung von 8-Hydroxydesoxyguanosin (56) nachweisbar. Da auf der anderen Seite das freie 8-Hydroxydesoxyguanosin vermindert ist, weist dies auf eine verstärkte DNA-Oxidation bei gleichzeitig reduzierter Reparatur hin.
Mikrogliazellen unterhalten die Oxidation
Wahrscheinlich ausgelöst durch einen neuronalen Initialschaden wandern vermehrt aktivierte Mikrogliazellen in die betroffenen Hirnregionen des Alzheimer-Patienten ein. Diese Neuroinflammation trägt wesentlich zum Unterhalt und zur Förderung oxidativer Vorgänge bei, die letztlich zum schweren Schaden und zum Tod des Neurons führen. Denn Mikrogliazellen setzen große Menge an zytotoxischen Radikalen frei, darunter vor allem NO und Superoxidanionen (16), die zu Peroxynitrit reagieren und dann in großem Ausmaß Proteine durch Nitrierung schädigen können (89). Diese nitrierten Proteine konnten in den NFTs in betroffenen Neuronen im Hippocampus nachgewiesen werden (89).
Auch mikroglial produzierte Zytokine sind wahrscheinlich am neuronalen Schaden beteiligt. So setzen Mikrogliazellen Interleukin-1 (IL-1) frei, das eine verstärkte Amyloid-Precursorprotein-(APP)-Expression und verstärkte Bildung von beta-Amyloidpeptid zur Folge haben kann (31). Auf die wesentliche Bedeutung dieser Neuroinflammation für die Pathogenese der Alzheimer-Erkrankung weisen Untersuchungen hin, wonach die typischen neuropathologischen Veränderungen (65) mit zentralen Entzündungsmarkern (Proteine der Komplementkaskade, Akute-Phase-Proteine, Proteasen und Proteaseinhibitoren) korrelieren.
Die oxidative Schadenskaskade bei Morbus Alzheimer Auf Grund eines unbekannten Initialereignisses werden bei der Alzheimer-Erkrankung verstärkt freie Sauerstoffradikale produziert. Dabei scheint die Kumulation von Eisen- und Aluminiumionen unbekannter Genese sowie die reduzierte Aktivität des mitochondrialen Atmungskettenenzyms Cytochromoxidase eine Rolle zu spielen. Diese initial erhöhte Produktion von freien Sauerstoffradikalen wird über mehrere redundante, rückkoppelnde und selbstverstärkende Systeme aufrechterhalten: Die Proteinschädigung, ob durch direkte Oxidation oder indirekt durch Reaktion mit aldehydischen Lipidperoxidationsprodukten entstanden, inaktiviert antioxidative Enzyme, womit weiterer Schaden entsteht. Zusätzlich wird über die Inaktivierung der Glutamin-Synthetase ein reduzierter Glutamin-Turnover mit resultierender verlängerter NMDA-Rezeptoraktivierung verursacht, der zur exzitotoxischen Zellschädigung und damit weiteren Produktion von Sauerstoffradikalen führt. Darüber hinaus ist die Proteinoxidation eine wichtige Voraussetzung für die Bildung von AGEs, die durch freie Eisen- und Aluminiumionen noch verstärkt wird. Diese "advanced glykation endproducts" sind in der Lage, weitere Sauerstoffradikale zu produzieren.
Mikrogliazellen wandern nun spezifisch zum Ort der neuronalen Schädigung. Im Rahmen ihrer Aktivierungs- und Phagozytosereaktion produzieren sie Mengen von freien Sauerstoffradikalen und setzen diese in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Neuronen frei.
Anhand der Pathogenese wird deutlich, dass eine effiziente antioxidative Therapie nur dann Erfolg versprechen kann, wenn sie entweder an vielen Orten dieser hochgradig redundanten und sich selbst verstärkenden radikalproduzierenden Stoffwechselwege gleichzeitig oder an einem sehr frühen Ereignis der Schadenskaskade sehr effektiv ansetzt.
Bei Morbus Alzheimer ist die Beteiligung des oxidativen Stresses in der Pathogenese bisher am ausführlichsten und detailliertesten untersucht. Dennoch zeigt dieses Beispiel, dass die Feinstruktur des komplizierten Netzwerkes aus primären und sekundären, räumlich und zeitlich definierten, intra- und extrazellulären Schadensvorgängen erst langsam entsponnen wird. Von einem umfassenden, gar kausalen Verständnis sind wir weit entfernt. Da es jedoch bislang keine wirksamen therapeutischen Optionen bei Morbus Alzheimer gibt, sind Anstrengungen zur antioxidativen therapeutischen Intervention gefordert.
Amyotrophe Lateralsklerose
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine der häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen bei Erwachsenen mit einer weltweiten Inzidenz von 1 bis 2/100.000. Dabei degenerieren motorische Nervenzellen des Rückenmarks und Hirnstammes sowie Pyramidenzellen des motorischen Kortex. Obwohl der Verlust motorischer Neurone die Symptomatik dominiert, kommt es auch zu einer Degeneration sensorischer Neurone; daher ist die ALS als eine neurodegenerative Systemerkrankung anzusehen. Sie ist über mehrere Jahre progredient und führt zum Tod, meist durch respiratorische Insuffizienz. Eine wirksame Therapie existiert zur Zeit nicht.
Auch bei dieser Krankheit gibt es deutliche Hinweise, dass oxidativer Stress eine zentrale Rolle in der Pathogenese spielt. So liegt der familiären Form eine Mutation der Cu/Zn-Superoxiddismutase zugrunde (80), während die primären Ursachen der sporadischen ALS noch weitgehend unbekannt sind. Bei beiden Formen kommt es zum neuronalen Zelltod durch oxidativen Stress, der die Bildung und Wirkung von Hydroxylradikalen und von Peroxynitrit, die Toxizität von Kupfer- und Zinkionen, die Aggregation von Proteinen und Störungen im glutamatergen Neurotransmittersystem einschließt (18).
Morbus Huntington
Die genetische Grundlage des Morbus Huntington (Chorea Huntington) ist eine autosomal-dominant vererbbare Mutation eines Gens auf dem Chromosom 4, das für ein "Huntingtin"-Protein codiert. Dieses Protein akkumuliert als Aggregat in intraneuronalen nukleären Einschlusskörpern im beidseits degenerierenden Striatum. Klinisch manifestiert sich die Krankheit zuerst durch psychische Auffälligkeiten und Depression in der vierten oder fünften Lebensdekade, denen sich dann hyperkinetisch-hypotone Bewegungsstörungen ("Veitstanz") und eine Demenz anschließen. Der Patient stirbt meist an den Folgen seiner stetig zunehmenden Immobilität.
Dem durch das abnormale Huntingtin-Protein ausgelösten Zelltod liegen wahrscheinlich verschiedene komplexe pathologische Prozesse zugrunde, die einen gestörten Energiestoffwechsel, Exzitotoxizität und oxidativen Stress beinhalten. Direkt nachweisbar sind eine erhöhte Radikalbildung, Lipidperoxidationsprodukte, 8-Hydroxydesoxyguanosin und Nitrotyrosin in den Regionen der Neurodegeneration (12). Dies weist auf eine oxidative Schädigung hin.
Morbus Parkinson
Bei Morbus Parkinson führt eine fortschreitende Degeneration nigrostriataler dopaminerger Neurone zu hypokinetisch-hypertonen Bewegungsstörungen. Die Krankheit manifestiert sich meist in der sechsten Lebensdekade mit einer Inzidenz von 20/100.000. Neuropathologisch lassen sich zytoplasmatische Einschlüsse aus aggregierten Neurofilamenten, die Lewy-Bodies, in den degenerierenden dopaminergen Neuronen in der Substantia nigra nachweisen. In der multifaktoriellen Genese wird dem oxidativen Stress und einer gestörten Mitochondrienfunktion eine große Bedeutung zugeschrieben (22).
Die geschädigten Neurone weisen eine reduzierte mitochondriale NADH-Cytochrom-c-Oxidaseaktivität mit hoher Sauerstoffradikal-Freisetzung und eine hohe intrazelluläre Konzentration an Eisenionen auf (1). Als weitere mögliche primäre Radikalquelle werden die Autoxidation oder der enzymatische Katabolismus von Dopamin über toxische Semichinon-Spezies diskutiert (25, 34). Nachweisbar sind eine erhöhte Lipidperoxidation sowie eine Verarmung an reduziertem Glutathion (25). Der primäre Nervenzelluntergang kann durch sekundäre inflammatorische Prozesse verstärkt werden (25).
Neuroinflammatorische Erkrankungen
Da geschädigte oder sterbende Neurone Mikrogliazellen aktivieren und zum Ort der neuronalen Schädigung locken, ist prinzipiell jede primäre Neurodegeneration mit einer sekundären neuroinflammatorischen Komponente verbunden. Im Unterschied dazu überwiegen bei inflammatorischen Krankheiten des ZNS die entzündlichen Prozesse, die die Neuronen wiederum sekundär schädigen können. Beispiele sind die bakterielle Meningitis und die Multiple Sklerose.
Trotz effektiver antibiotischer Behandlung verlaufen bakterielle Meningitiden nicht selten mit schweren Komplikationen wie Hirnödem, erhöhtem Hirndruck und zerebrovaskulären Insulten. Einwandernde Leukozyten, Monozyten/Makrophagen und Mikrogliazellen setzen große Mengen toxischer Sauerstoffradikale frei, die einen essenziellen Bestandteil der körpereigenen Abwehr gegen die Krankheitserreger darstellen ("oxidative burst"). Diese Radikale können aber auch Hirngewebe schädigen und so zu den Komplikationen beitragen. Vermutlich wirken Stickstoffmonoxid und Superoxidanionradikale bei der Produktion des hochtoxischen Peroxynitrits zusammen, das in Neuronen eine Lipidperoxidation und Proteinschädigung initiieren kann, aber vor allem auch DNA-Strangbrüche verursacht. Dadurch wird das DNA-bindende Enzym Poly-ADP-Ribose-Polymerase überaktiviert, was zu einem massiven NAD+ - und ATP-Verbrauch und damit zum neuronalen Zelltod führen kann (36).
Die Multiple Sklerose ist eine demyelinisierende Erkrankung des ZNS mit unbekannter Ätiologie. Dabei kommt es im ZNS zu inflammatorischen Infiltraten autoreaktiver T-Lymphozyten und unspezifischer Lymphozyten. Die Konzentration reaktiver Sauerstoff- und Stickstoffspezies kann dramatisch ansteigen und die zelleigenen antioxidativen Schutzsysteme überfordern. Dies schädigt Lipide, Proteine und Nukleinsäuren. Besonders die Oligodendrozyten und auch das Myelin selbst (6) sind empfindlich gegenüber oxidativem Stress (90), insbesondere für das durch inflammatorische Zellen freigesetzte NO (67). Oligodendrozyten können absterben und letztlich kann es zur Demyelinisierung des Axons kommen - entweder als Folge einer direkten Schädigung durch die Lipidperoxidation und ihre Produkte oder eine indirekte Schädigung durch Aktivierung von Proteasen oder der Phospholipase A2 (90).
Antioxidative Therapie als Strategie?
Der Nachweis einer Beteiligung des oxidativen Stresses an akuten oder chronischen neurodegenerativen Krankheitsbildern lässt hoffen, durch Erhöhung der antioxidativen Kapazität oder Verminderung der prooxidativen Bedingungen im betroffenen Gewebe intervenieren zu können. Die Anwendung von Antioxidantien-haltigen Arzneistoffen und Nahrungsergänzungsmitteln ist weit verbreitet; die Hersteller schreiben ihren Produkten eine günstige Wirkung auf verschiedene Krankheiten zu, gerade mit dem Hinweis auf einschlägige Ergebnisse der Grundlagenforschung.
Da in der Medizin die konkrete Behandlung des Erkrankten im Mittelpunkt steht, erscheint es erst einmal nachrangig, ob der oxidative Stress primär und kausal oder sekundär auftritt, solange durch therapeutische Intervention ein Nutzen für den Patienten erzielt werden kann. Da die Initialereignisse neurodegenerativer Krankheiten bisher noch weitgehend unbekannt sind, könnte die Gabe von Antioxidantien lange vor der Entwicklung der ersten Symptome bei Risikopatienten möglicherweise den Ausbruch der Krankheit verzögern oder verhindern.
Mögliche Ansatzpunkte für die Intervention
Eine antioxidative Therapie kann an verschiedenen Komponenten des Radikalstoffwechsels angreifen: Antioxidantien sind endogene oder exogene, meist niedermolekulare Substanzen, die entweder die Bildung freier Radikale reduzieren oder diese neutralisieren. Antioxidantien können fettlöslich wie Vitamin E oder wasserlöslich wie Vitamin C sein und unterscheiden sich in der Fähigkeit, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. So gibt es die Lazaroide mit geringer und die Pyrrolopyrimidine mit guter Blut-Hirn-Schranken-Gängigkeit. Andere Substanzen wie Desferoxamin (Desferal®) komplexieren freie Übergangsmetallionen und entfernen diese wichtigen Katalysatoren der Radikalenbildung aus dem Stoffwechsel. Innerhalb der Gruppe der membranlöslichen Antioxidantien gibt es deutliche Unterschiede in ihrer Effektivität in biologischen Membranen; so ist Coenzym Q ein ausgesprochen mitochondriales Antioxidans. Zur antioxidativen Therapie gehört auch der Eingriff in Sekundärprozesse wie die Erhöhung des zur Entgiftung von Peroxiden zur Verfügung stehenden Glutathions.
Bisher wurden verschiedene Ansatzpunkte gewählt, um in experimentellen Modellen oder klinischen Studien die Auswirkungen oxidativer Belastung im Gehirn einzudämmen. Die Blut-Hirn-Schranke ist zwar bei akuten Veränderungen wie dem ischämischen Insult oft durchbrochen, jedoch bei chronisch degenerativen Prozessen weitestgehend intakt. Pharmaka müssen die Blut-Hirn-Schranke überwinden, sie dabei möglichst nicht schädigen und im restlichen Körper nicht toxische Konzentrationen aufbauen.
Ähnlich wie in anderen Organen will man auch im Gehirn die Bildung oxidierender Substanzen einschränken. Hier werden verschiedene Hemmstoffe von Enzymen, zum Beispiel der NO-generierenden NO-Synthetase, untersucht. Radikale können aber auch durch antioxidativ wirkende Stoffen nicht-enzymatisch "abgefangen" und entgiftet werden. So wurden PBN (a-Phenyl-N-tert.-butyl-Nitrone) und Lazaroide (21-Aminosteroide) als Radikalfänger getestet, ebenso wie Ebselen, eine selenoorganische Verbindung, und N-Acetylcystein (29).
Daneben versucht man, zelluläre Gegenreaktionen und verstärkende Mechanismen zu unterdrücken. Dazu gehören Antagonisten von Neurotransmittern (NMDA-Antagonisten) oder Inhibitoren der zur intraneuronalen Energieverarmung bei exzitotoxischem Zelltod wesentlich beitragenden Poly-ADP-Ribose-Polymerase (36,53). Hierzu können auch Versuche gezählt werden, den zellschädigenden "oxidative burst" von Mikrogliazellen und anderen Makrophagen einzuschränken und somit die sekundäre Schädigung im Nervengewebe zu reduzieren.
Tierexperimentelle und klinische Studien
Die Bedeutung oxidativer Mechanismen bei neurologischen Erkrankungen wird durch viele Tiermodelle gestützt, bei denen eine antioxidative Intervention das Krankheitsbild bessern konnte. So reduzierte Melatonin, dank seiner guten Blut-Hirn-Schranken-Gängigkeit ein sehr effektiver Radikalfänger für das ZNS (13), die Infarktgröße in einem Schlaganfallmodell bei Ratten. Andere Antioxidantien wie Pyrrolopyrimidin und PBN waren ebenfalls stark wirksam (85, 101). Vitamin E verzögerte den Krankheitsausbruch an einem Mausmodell der amyotrophen Lateralsklerose (35) und verschiedene Antioxidantien die Inzidenz und Schwere der Autoimmunenzephalitis (38, 39). Eine Übersicht über ausgewählte Experimente zeigt die Tabelle (PDF, 55kB).
Im Gegensatz zu den tierexperimentellen Arbeiten zeigten Antioxidantien in ersten klinischen Studien am Menschen jedoch deutliche schwächere und zum Teil widersprüchliche Effekte. So konnte mit Vitamin E (82), Selegilin (82) oder Desferoxamin (19) bei Morbus Alzheimer und mit Glutathion (86) oder Selegilin (74) bei Morbus Parkinson nur eine leichte Verzögerung der klinischen Progression erreicht werden. Vitamin E war bei Parkinson-Patienten unwirksam (74), ebenso N-Acetylcystein bei der Amyotrophen Lateralsklerose (57) und Vitamin E (75) oder Idebenon (78) bei Morbus Huntington. Nach Schlaganfall konnte in einer Studie eine Verminderung des neurologischen Defizits durch Ebselen erzielt werden (94), Trilazadmesylat erwies sich als unwirksam (79). Bei der Subarachnoidalblutung war in einer Studie Trilazadmesylat unwirksam (37), bei einer anderen wurden eine reduzierte Mortalität und geringere neurologische Folgedefekte beschrieben (47).
Die bisherigen Ergebnisse am Menschen scheinen mehr als dürftig; ein positiver Effekt ist, wenn überhaupt, nur schwach nachweisbar. Dieser Diskrepanz können mehrere Ursachen zugrunde liegen: In keiner klinischen Studie am Menschen wurden Marker der oxidativen Schädigung als Surrogatmarker der Therapieeffizienz gemessen. Daher ist es nicht möglich festzustellen, ob das einzelne Antioxidans wirklich den oxidativen Stress vermindern konnte. Objektive Parameter der Wirksamkeit sind gerade bei selteneren neurologischen Krankheiten umso notwendiger, da große prospektive Studien nicht möglich sind. Eine weiteres Problem besteht darin, dass einige Antioxidantien auch prooxidativ wirken können. Hier stellt sich die Frage nach der optimalen Dosierung, gerade bei Substanzen, die die Blut-Hirn-Schranke durchdringen müssen.
Außerdem wird eine monokausale Intervention kaum vielversprechend sein. Zum Beispiel soll Vitamin E als lipophiler Radikalfänger bei Morbus Alzheimer die Lipidperoxidation in den Zellmembranen reduzieren; aber zunächst stellt sich die Frage, ob sich die Substanz in ausreichender Menge in den neuronalem Membranen ansammelt und wenn ja, ob dieser Wirkort allein ausreicht, um das redundante und sich selbst verstärkende System der Radikalbildung effizient zu beeinflussen.
Eine antioxidative Therapie von neurodegenerativen Krankheiten könnte durchaus vielversprechend sein, gerade wenn über lange Zeit hinweg therapiert werden kann und vor allem bereits in präklinischen Stadien damit begonnen wird. Dazu wird eine Kombination verschiedener Antioxidantien notwendig sein, die wahrscheinlich in klar definierten Zeitfenstern zur Anwendung kommen muss. Die antioxidative Therapie neurologischer Krankheiten steht derzeit wohl erst ganz am Beginn ihrer Möglichkeiten.
Wie freie Radikale im Gehirn entstehen und welche biologischen Wirkungen sie dort auslösen, haben die Autoren im Titelbeitrag der PZ 46/2001 erläutert. Dort finden Sie auch das Literaturverzeichnis.
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. Dr. rer. nat. Oliver Ullrich
AG Zell- und Neurobiologie, Institut für Anatomie
Privatdozent Dr. med. Tilman Grune
Neurowissenschaftliches Forschungszentrum
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