Mehr als ein Nischenproblem |
21.04.2015 14:54 Uhr |
Von Ulrike Abel-Wanek / Internetabhängigkeit ist auf dem Vormarsch. Mit einer Prävalenz von rund 1,5 Prozent kommt sie in Deutschland häufiger vor als die Schizophrenie. Die PZ sprach mit dem Arzt, Buchautor und Mitbegründer des Fachverbands Medienabhängigkeit, Bert te Wildt.
PZ: Sie leiten eine Medienambulanz an der Ruhr-Universität Bochum. Wie kam es dazu?
Te Wildt: Die erste Medienambulanz habe ich bereits 2002 an der Medizinischen Hochschule Hannover gegründet. Es hatte mich immer interessiert, wie sich die menschliche Psyche einerseits in den Medien abbildet und sich andererseits durch die Medien auch wieder verändert – ich nannte das »Wechselspiel zwischen Mensch und Medien«.
Je früher man mit einem Suchtmittel in Berührung kommt und je leichter der Zugang, desto größer ist die Gefahr der Abhängigkeit.
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Während meiner Arbeit in der Sprechstunde für Menschen mit Medienabhängigkeit in Hannover habe ich dann zu meiner Überraschung festgestellt: Es kamen ausschließlich Menschen mit Symptomen einer einzigen psychischen Störung: der Abhängigkeit vom Internet. Das hatte ich vorher so gar nicht für möglich gehalten. Dadurch bin ich auf das zentrale Thema Internetabhängigkeit gestoßen, und es wurde zum Kern meiner klinischen und forschenden Arbeit als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das gilt nun auch für die Medienambulanz, die ich 2012 in der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bochum begründet habe. Bochum hat den Vorteil, ein sehr großes Einzugsgebiet zu haben, allein im Ruhrgebiet wohnen acht Millionen Menschen. Für die Forschung ist es wichtig, möglichst viele Menschen sehen und befragen zu können.
PZ: Wer kommt zu Ihnen und warum?
Te Wildt: Pro Woche kommen bis zu fünf Patienten, die typischen Betroffenen sind nach wie vor die jungen Männer, die Onlinespiel-abhängig sind, vor allem von Onlinerollen- oder Strategiespielen, also Spielen, die von sehr vielen Menschen gleichzeitig gespielt werden und sozusagen auf Unendlichkeit angelegt sind.
Die Patienten kommen häufig fremdmotiviert, das heißt, zum Beispiel Eltern oder Arbeitgeber drohen mit Rausschmiss, wenn sie sich nicht behandeln lassen. Sie selber sehen zunächst häufig kein Problem. Wenn sie von uns dann aber die Diagnose bekommen, erwachen sie regelrecht aus ihrem digitalen Tiefschlaf und sind sehr betroffen. Viele hatten über Monate, manchmal über Jahre kaum noch Kontakt zu anderen Menschen, Freundschaften und Partnerschaften gingen kaputt. Manchmal sind sie aus Schule oder Studium rausgeflogen, manchmal haben sie ganz basale körperliche Bedürfnisse vernachlässigt wie regelmäßige Nahrungsaufnahme und Schlafen – bis hin zur Verwahrlosung. Studien zeigen, dass zunehmend auch junge Frauen betroffen sind, jedoch steht hier die Abhängigkeit von den sozialen Netzwerken im Vordergrund, weniger die Onlinespiele. Generell ist die Abhängigkeit von Onlinespielen am häufigsten anzutreffen, gefolgt von Cybersex-Sucht und den sozialen Netzwerken.
PZ: Warum nimmt Internetabhängigkeit zu?
Te Wildt: Ich will zunächst klarstellen, dass ich das Internet nicht verdammen will. Ich möchte selbst nicht darauf verzichten. Aber die Gesellschaft hat einen blinden Fleck auf dem Auge für die Abhängigkeitsgefahren, die davon ausgehen. Sie ist selbst kollektiv derart abhängig, dass Einzelschicksale kaum auffallen. Wenn ich auf die negativen Seiten der Vernetzung eingehe, erklärt sich das aus meiner Erfahrung als Arzt und Psychotherapeut. Die Internetabhängigen sind die Verlierer der digitalen Revolution.
Beziehungen gehen häufig in die Brüche, wenn ein Partner internetsüchtig ist.
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Was Hacking-Attacken, Abhörskandale oder die massenhafte Verwertung privater Daten von Unternehmen betrifft, gibt es durchaus eine Art Katerstimmung in der Politik. Auf der anderen Seite werden mit einer großen Initiative der Bundesregierung Computer- und Breitbandtechnik allen zugänglich gemacht, alle Schulen sollen vernetzt werden. Ich sehe das sehr kritisch. Denn je früher man mit einem Suchtmittel in Kontakt kommt und je leichter der Zugang ist, desto größer ist die Gefahr der Abhängigkeit. Kommen hoher Leistungsdruck und Anspannung hinzu, mit denen die Kinder und Jugendlichen ja auch hierzulande zunehmend aufwachsen, ist der Weg vom spielerischen oder pädagogischen Umgang mit dem Internet in eine Sucht nicht mehr weit – quasi als Übersprungshandlung zur Entlastung und Kompensation. Grundsätzlich steigt mit der Ausbreitung des Internets das Abhängigkeitspotenzial – überall.
PZ: Gesellschaftlicher Wandel und ein unkritischer Umgang mit digitalen Medien fördert also die Onlinesucht. Warum wird aber das Medium Internet zum Suchtmittel, ähnlich wie Alkohol?
Te Wildt: In den Ambulanzen für Menschen mit Medienabhängigkeit stellt sich nur selten jemand vor, der an einer Abhängigkeit von Computermedien leidet, die nicht vernetzt sind. Es ist vor allem die Vernetzung, die das Abhängigkeitspotenzial ausmacht. Aus zwei Gründen: Erstens bietet das Cyberspace Zugang zu einem riesigen virtuellen Raum mit schier unendlichen spielerischen oder erotischen Abenteuern. Auch Menschen, die nicht vom Internet abhängig sind, wissen, wie leicht man hier Zeit und Überblick verliert, weil sich immer wieder Neues auftut. Zweitens übernimmt die Interaktivität des Internet eine Beziehungsfunktion. Der Mensch ist ein Beziehungswesen, und im Netz trifft er auf Gleichgesinnte, die sein Freund, sein Date oder sein Partner sein könnten. Bei Onlinespielen kommt hinzu, dass sie das Belohnungssystem im Gehirn antriggern. Bei den sozialen Netzwerken scheint die Anhäufung von Freunden, Kontakten und Postings eine Rolle zu spielen, die bloße Anzahl von optischen und akustischen Reizen, die süchtig machen kann. 2014 ergab eine Studie der Universität Bonn, dass junge Smartphone-Nutzer rund 120 Mal pro Tag auf ihr Smartphone schauen, dass die Nutzung von Whatsapp oder Facebook ihre absolute Hauptbeschäftigung ist, dass sie kaum noch SMS verschicken, E-Mails schreiben geschweige denn telefonieren.
Neben der Art des Mediums gibt es aber auch noch soziale und psychologische Faktoren, die eine Suchterkrankung begünstigen. Eine starke Impulsivität beispielsweise und die Unfähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben. Außerdem die Suche nach sogenannten Kicks, um den Belohnungsreiz auszulösen. Aber auch Einsamkeit, Angst, Schüchternheit, Unsicherheit und Selbstwertprobleme sind häufig anzutreffende Charakteristika von Menschen, die eine Sucht entwickeln. Typisch sind auch soziale Faktoren wie Ausgrenzungserfahrungen und Schwierigkeiten in Familie, Partnerschaft, Freundschaft, Schule und Beruf.
PZ: Onlinesucht ist noch keine anerkannte klinische Diagnose. Wie wird sie behandelt?
Te Wildt: Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigen, kämpfen seit Jahren dafür, dass Internetabhängigkeit als Störungsbild anerkannt wird. Erste Schritte dahin sind gemacht. Das DSM5 – das Diagnostische und Statistische Manual für psychische Erkrankungen – hat in der Neuauflage 2013 zumindest die Onlinespiel-Abhängigkeit als Forschungsdiagnose anerkannt. Internetabhängigkeit ist längst kein Nischenphänomen mehr, längst beschäftigen sich Fachgesellschaften damit, die Forschung voranzutreiben. Auch die Krankenkassen haben das Problem erkannt – wir hatten in der Medienambulanz noch nie Probleme mit der Abrechnung. Und es gibt Klinken, die sich sehr für das Thema interessieren und in der Behandlung von Inter-netabhängigkeit quasi einen Markt sehen.
Unser Therapieangebot stützt sich – leicht modifiziert – auf ein verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual, das Kollegen von der Ambulanz für Spielsucht an der Uniklinik Mainz entwickelt haben. Wir arbeiten gruppentherapeutisch über maximal 50 Sitzungen. Langfristig brauchen aber viele Patienten noch eine ambulante – teils tiefenpsychologische – Einzeltherapie, um auch begleitende Erkrankungen wie Depression und Angsterkrankungen zu behandeln.
PZ: Wann sollte man spätestens eine Medienberatungsstelle aufsuchen?
Te Wildt: In dem Moment, wo man angesprochen wird von anderen oder wenn exzessiver Internetkonsum dazu geführt haben könnte, dass eine Beziehung oder ein Arbeitsverhältnis in die Brüche gegangen ist. Dann ist es auf jeden Fall sinnvoll, mit einem Profi auf das Problem zu schauen. Ich schicke Patienten gerne wieder weg wenn ich denke, sie sind gar keine Patienten. Betroffene sind aber meistens gerne bereit, eine Behandlung anzunehmen.
PZ.: Wird sich die Internetsucht weiter ausbreiten?
Te Wildt: Ich denke, dass die digitale Revolution noch ganz am Anfang steht. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Kinder und Jugendliche immer früher und schneller in die digitale Welt eingesogen werden. Insofern müssen wir uns auch darauf einrichten, dass die Zahl der Internetabhängigen weiter steigt. Gleichzeitig wird es eine Gegenbewegung geben, in der Pädagogik, in den Elternhäusern, in der Politik – erste Schulen fangen schon damit an, die Smartphone-Benutzung stark zu begrenzen, beispielsweise Salem. Wenn die Gegenmaßnahmen irgendwann durch hoffentlich alle gesellschaftlichen Schichten hindurch ergriffen werden, wird der Anstieg von Internetabhängigkeit abgebremst – ich bin da nicht nur pessimistisch. /
Bert te Wildt: Digital Junkies. Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder.
384 Seiten, Hardcover.
Droemer Knaur 2015.
ISBN: 978-3-426-27656-3.
EUR 19,99.