Herausforderungen, Chancen und Risiken |
Die Herstellung von ATMP ist meist sehr aufwendig und die Chargengrößen sind klein. Die Produkte gehören daher zu den sehr hochpreisigen Präparaten. / Foto: iStock/Nicolas_
Fortschritte in der Biomedizin haben zur Entwicklung der sogenannten Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMP) geführt. Sie enthalten entweder einen Wirkstoff, der eine rekombinante Nukleinsäure beinhaltet beziehungsweise daraus besteht, oder Zellen, die auf bestimmte Weise bearbeitet wurden und spezielle Aufgaben im Körper erfüllen sollen.
Die Entwicklung entsprechender Medikamente hat zuletzt enorme Fortschritte gemacht. Die Hoffnung ist, dass sich mit ATMP bald auch bis heute kaum therapeutisch erreichbare Krankheiten und Funktionsstörungen behandeln lassen. »Aktuell fokussieren etwa 80 Prozent der Entwicklungen im Bereich ATMP auf die Behandlung onkologischer Erkrankungen«, sagte Professor Dr. Lutz Uharek von der Charité Berlin der PZ. Eine zweite große Entwicklungswelle ziele auf die Behandlung von genetischen Erkrankungen ab. Daneben gebe es noch ATMP in der regenerativen Medizin, etwa zur Therapie von Knorpel-, Kochen- und Gelenkerkrankungen. ATMP böten für diese Krankheiten revolutionär neue Behandlungsansätze. »Die Therapien können für den Patienten maßgeschneidert werden und das Risiko für Nebenwirkungen lässt sich durch eine individuelle Anpassung senken«, so der Internist.
Viele ATMP haben ihren Ursprung im akademischen Forschungsumfeld. Ein stark experimenteller Charakter ist typisch. Für die Pharmaindustrie sind die ATMP bislang von eher geringem Interesse. Das liegt daran, dass die Arzneimittel oft individuell und in kleinen Mengen hergestellt werden und der Behandlung seltener Krankheiten dienen. Eine weitere Besonderheit: ATMP können auf normalem Weg nicht in nur einem EU-Mitgliedsstaat zugelassen werden, sondern müssen in einem zentralisierten Verfahren über die Europäische Arzneimittelagentur zugelassen werden. Das regelt seit 2008 die Verordnung (EG) Nr. 1394/2007 über Arzneimittel für neuartige Therapien.
Für Hersteller eröffnen sich aber Optionen über eine Ausnahmeregelung gemäß Artikel 28 der Verordnung. Demnach können einzelne Mitgliedstaaten ATMP auch auf nationaler Basis genehmigen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehört, dass ein ATMP dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechen muss, die ihm zugeschriebene Funktion erfüllt und ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweist. Des Weiteren muss das ATMP als individuelle Zubereitung für einen einzelnen Patienten ärztlich verschrieben und nach spezifischen Qualitätsnormen, aber nicht in der Routineproduktion hergestellt werden. Die Anwendung hat zudem in einer spezialisierten Einrichtung unter der fachlichen Verantwortung eines Arztes stattzufinden. Verantwortlich für die Zulassung auf nationaler Ebene ist dann in Deutschland das Paul-Ehrlich-Institut (Langen).
ATMP gehören je nach ihren Eigenschaften einer von drei Produktklassen an. Gentherapeutika, Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte (Tissue Engineered Products, TEP). Schließlich gibt es noch die kombinierten ATMP, eine Kombination aus ATMP und Medizinprodukt. Sie alle müssen der grundsätzlichen Definition von Arzneimitteln entsprechen und somit Eigenschaften zur Behandlung, Vorbeugung oder Diagnose von Krankheiten durch pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkungen aufweisen.
Zu den Gentherapeutika zählen biologische Arzneimittel, die ein rekombinantes Stück Nukleinsäure in den menschlichen Körper einbringen mit dem Ziel, bestimmte Nukleinsäuresequenzen zu regulieren, zu reparieren, zu ersetzen oder zu entfernen. Die angestrebte therapeutische, prophylaktische oder diagnostische Wirkung muss mit dem eingebrachten Gen oder mit einem aus dessen Expression entstandenen Protein in Zusammenhang stehen. Daher sind beispielsweise Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten nicht als Gentherapeutika zu betrachten.
Gentherapeutika können ganz individuell für einen Patienten hergestellt werden. Dazu werden dem Patienten zunächst Zellen entnommen, diese genetisch verändert und unter Verwendung eines gebrauchsfertigen viralen oder nicht viralen Vektors wieder injiziert.
Beispiele für Gentherapeutika sind DNA-Plasmide, die den Fibroblasten-Wachstumsfaktor FGF-1 kodieren und bei kritischer Ischämie der unteren Extremitäten zum Einsatz kommen. Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen kann die Anwendung von genetisch modifizierten Bakterien der Art Lactococcus lactis, die humanes Interleukin-10 abgeben, helfen. Viren, die gentechnisch verändert wurden, können ebenfalls therapeutisch eingesetzt werden. So wird zur Behandlung von Retinitis pigmentosa ein Lentivirus-Vektor, der das humane Myosin7A-Gen exprimiert, eingesetzt.
Somatische Zelltherapeutika sind biologische Arzneimittel, deren Wirkstoff autologe (vom Patienten selbst stammende), allogene (von einem anderen Menschen stammende) oder xenogene (von Tieren stammende) lebende Körperzellen sind. Diese Zellen wurden in ihren biologischen Merkmalen, physiologischen Funktionen oder strukturellen Eigenschaften so verändert, dass sie für die beabsichtigte klinische Verwendung geeignet sind. Des Weiteren zählen zu den somatischen Zelltherapeutika Zellen, die im Empfänger eine andere Funktion ausüben sollen als im Spender (»non-homologous use«).
Ein Beispiel für eine therapeutische Maßnahme mit somatischen Zelltherapeutika ist die Leberzelltherapie. Hier setzen Ärzte allogene postmortal gespendete Leberzellen zum vorübergehenden Funktionsersatz etwa bei akutem Leberversagen ein. Bei chronischen Bein-Ulzera können Hautzellen in vitro vermehrt und mit Fibrin-Kleber zur Behandlung verwendet werden. Die Anwendung einer Mixtur aus porzinen Betazellen und ihren begleitenden endokrinen Zellpopulationen, eingebettet in eine Alginatmatrix, ist eine besondere Behandlungsmethode bei Diabetes.
TEP, die dritte ATMP-Klasse, enthalten Gewebe oder bestehen aus Gewebe, das biotechnologisch bearbeitet wurde. Das Gewebe muss der Regeneration, Wiederherstellung oder dem Ersatz menschlichen Gewebes dienen. Nicht zu den TEP zählen tote Zellen ohne pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkungsweise.
Ein Beispiel für ein Einsatzgebiet von biotechnologisch bearbeiteten Gewebeprodukten ist die Behandlung von Knorpeldefekten mit kultivierten und expandierten autologen Chondrozyten-Transplantaten. Nach schweren Verbrennungen können Ärzte einen Hautersatz aus gefrorenen und kultivierten allogenen Keratinozyten transplantieren, um Hautdefekte zu reparieren. Hornhautzellen wiederum, die Stammzellen enthalten, können vermehrt werden und zur Behandlung von Hornhautschäden retransplantiert werden.
Produkt® | Klasse | Indikation | Zugelassen seit |
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Luxturna | Nicht zellbasiertes GTMP | Sehverlust infolge einer erblichen Netzhautdystrophie, die auf nachgewiesenen biallelischen RPE65-Mutationen beruht | 2018 |
Yescarta | Zellbasiertes GTMP | rezidiviertes/refraktäres diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom und primär mediastinales B-Zell-Lymphom | 2018 |
Kymriah | Zellbasiertes GTMP | rezidiviertes/refraktäres diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom und akute lymphatische Leukämie | 2018 |
Alofisel | SCTMP | komplexe perianale Fisteln bei Morbus Crohn | 2018 |
Spherox | TEP | Knorpeldefekte im Knie | 2017 |
Zalmoxis | SCTMP | Begleittherapie bei haploidentischer hämatopoetischer Stammzelltransplantation | 2016 |
Strimvelis | zellbasiertes GTMP | Erbkrankheit ADA-SCID | 2016 |
Imlygic | Nicht zellbasiertes GTMP | nicht resezierbares, lokal oder entfernt metastasiertes Melanom ohne Knochen-, Hirn-, Lungen- oder Viszeral-Beteiligung | 2015 |
Holoclar | TEP | mittelschwere bis schwere Insuffizienz an limbalen Stammzellen infolge von Verbrennungen oder Verätzungen des Auges | 2015 |
Als Arzneimittel unterliegen ATMP den Anforderungen an die gute Herstellungspraxis (GMP). Für Hersteller ist das eine Herausforderung. »Zum einen sind die Chargengrößen verglichen mit anderen Arzneimitteln bei ATMP meist klein«, so Uharek. Im Extremfall komme es auch vor, dass ein Produkt nur für einen speziellen Patienten hergestellt werde. Bei der Entwicklung und Herstellung sind zum anderen auch die virale Unbedenklichkeit, eine kritische Auswahl der Spender und die Verfolgbarkeit der Arzneimittel vom Spender bis zum Fertigarzneimittel zu bedenken. »Weitere Faktoren wie ein hoher Produktionsaufwand mit oft zahlreichen manuellen Schritten, ein hoher Grad an Variabilität, unzureichend geklärte Erstattungsfragen und die gesamte Problematik mit der Zulassung schränkten heute noch die großflächigere Anwendung von ATMP ein«, sagte Uharek.
Eine besondere Herausforderung stellt auch die Pharmakovigilanz dar, da ATMP andere und oft auch höhere Risiken aufweisen als klassische Arzneimittel. Dazu zählen eine mögliche Kontaminierung durch Krankheitserreger, eine immunologisch bedingte Abstoßung oder noch unbekannte Spätkomplikationen. »Bei den ATMP ist mehr noch als bei den herkömmlichen Arzneimitteln auch nach der Zulassung eine kontinuierliche Dokumentation der Effektivität und Pharmakovigilanz gefordert«, so der Arzt. »Mögliche Risiken und Nebenwirkungen lassen sich nicht umfassend aus klinischen Studien ableiten. Dafür sind die Therapien zu variabel und individuell unterschiedlich.« Genau in ihren Stärken, nämlich ihren individuellen Anpassungsmöglichkeiten, liegen also auch besondere Risiken dieser neuen Therapiemöglichkeiten.