Große Indikationen für die RNA-Interferenz |
Annette Rößler |
16.12.2021 09:30 Uhr |
RNAi-Therapeutika unterdrücken die Synthese von bestimmten Genprodukten, ohne Gentherapeutika zu sein. Das ist wichtig zu betonen, da der Begriff »Gentherapie« bei vielen Menschen auch angstbesetzt ist. / Foto: Getty Images/Tumeggy/Science Photo Library
Obwohl mittlerweile bereits vier RNAi-Therapeutika in Deutschland im Handel sind, mutet diese Therapieform nach wie vor futuristisch an: Das Einbringen von kurzen RNA-Abschnitten (small interfering RNA, siRNA) in Zellen führt dazu, dass Boten-RNA (mRNA), die komplementär zu diesen ist, abgebaut wird. Da die mRNA bekanntlich die genetische Information für bestimmte Proteine vom Zellkern zu den Ribosomen bringt, wo dann die Proteinbiosynthese stattfindet, führt das Abfangen der mRNA durch die siRNA dazu, dass die entsprechenden Proteine nicht mehr hergestellt werden. Das betroffene Gen ist somit de facto stillgelegt, ohne dass ein Eingriff ins Genom stattgefunden hätte.
RNA in Zellen einzubringen, ist allerdings kein leichtes Unterfangen. Es gelingt, wenn die RNA – wie etwa im Fall der mRNA-Impfstoffe Comirnaty® oder Spikevax® gegen Covid-19 – in bestimmte Lipid-Nanopartikel verpackt ist. Speziell für das Entern von Leberzellen können auch drei N-Acetylgalactosamin-Zuckereinheiten (triantennäres GalNAc) an die RNA gekoppelt werden. Der GalNAc-Rest bindet selektiv an einen bestimmten Rezeptor auf Hepatozyten (ASGPR), woraufhin das Molekül in die Zellen aufgenommen wird.
Patisiran (Onpattro®) war 2018 das erste RNAi-Therapeutikum auf dem deutschen Markt, ein Orphan Drug, das zur Behandlung von Patienten mit hereditärer Transthyretin-vermittelter Amyloidose (hATTR) angewendet wird. 2020 folgte Givosiran (Givlaari®) bei akuter hepatischer Porphyrie (AHP) und 2021 Lumasiran (Oxlumo®) bei primärer Hyperoxalurie Typ 1 (PH1), beides ebenfalls seltene Indikationen. Zuletzt kam mit Inclisiran (Leqvio®) das erste RNAi-Therapeutikum in einer breiten Indikation hinzu: Hypercholesterolämie.
Alnylam hat alle diese Wirkstoffe (mit)entwickelt und ist auch bei fast allen Zulassungsinhaber, nur bei Inclisiran ist dies der Partner Novartis. Bei einer Fortbildungsveranstaltung von Alnylam für medizinische Fachkreise wurde kürzlich deutlich, dass weitere RNAi-Therapeutika auch für große Indikationen in der Pipeline sind.
Dr. Akshay Vaishnaw, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Alnylam, nannte zunächst den Wirkstoffkandidaten Zilebesiran (ALN-AGT), der bei Bluthochdruck eingesetzt werden soll. Sein Target ist Angiotensinogen, das Vorläuferprotein des für die Blutdruckregulation wichtigen Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS). Vaishnaw zufolge ließ sich in einer Phase-I-Studie bereits mit einer einzigen Injektion von Zilebesiran eine starke und über 24 Wochen anhaltende Blutdrucksenkung erreichen. Ein Vorteil des RNAi-Therapeutikums gegenüber oral einzunehmenden Antihypertensiva könne etwa die konstante Wirkung auf den Blutdruck über den gesamten Tagesverlauf sein. So deuteten erste Daten darauf hin, dass der physiologisch wichtige nächtliche Abfall des Blutdrucks bei oralen Blutdrucksenkern geringer ausfallen könnte als bei Zilebesiran.
Ebenfalls eine große Indikation ist das metabolische Syndrom, das bekanntermaßen durch den westlichen Lebensstil mit zu viel hochkalorischer Nahrung und zu wenig Bewegung bedingt ist. Als besonders kritisch gilt ein hoher Fructosekonsum, denn dieser steigert Studien zufolge mehr als ein hoher Zuckerverzehr das Risiko für bauchbetontes Übergewicht, Dyslipidämie und Insulinresistenz – gleich drei Komponenten des metabolischen Syndroms. Der Grund dafür ist, dass Fructose schneller als Glucose zu Fett umgewandelt wird.
Nach Aufnahme in die Zelle wird Fructose zunächst von der Ketohexokinase (KHK) phosphoryliert. Funktioniert die KHK aufgrund einer Mutation nicht, kann Fructose nicht verdaut werden und wird mit dem Urin ausgeschieden. Vaishnaw informierte, dass Alnylam mit ALN-KHK ein RNAi-Therapeutikum entwickele, das die Ketohexokinase lahmlegt. Pfizer verfolge mit seinem Kandidaten für einen KHK-Inhibitor PF-06835919 ebenfalls dieses Ziel und habe damit in frühen klinischen Studien gute Erfolge bei Patienten mit nicht alkoholischer Fettleber (NAFLD) gesehen. Allerdings gab Pfizer im Sommer laut mehreren Nachrichtenagenturen bekannt, die weitere Entwicklung von PF-06835919 eingestellt zu haben.
Möglicherweise bietet ein anderes Protein beziehungsweise Gen einen noch besseren Ansatzpunkt beim metabolischen Syndrom, das Vaishnaw als »Gen X« bezeichnete. Dieses Leberprotein habe man in genomweiten Assoziazionsstudien mit dem metabolischen Syndrom in Verbindung gebracht und bereits einen Kandidaten dagegen in der frühen Entwicklung. Den geplanten Start erster klinischer Studien kündigte der Referent allerdings erst für 2024 an.
Ebenfalls erst in einigen Jahren wird man mit klinischen Ergebnissen zum ersten Kombinations-RNAi-Therapeutikum rechnen können, bei dem eine Anti-Angiotensinogen-siRNA als Blutdrucksenker über einen Linker mit einem Anti-Angptl3-siRNA-Teil verbunden wird. Letzterer soll den LDL-Cholesterolspiegel und damit das Atheroskleroserisiko senken.
Schon weiter, nämlich in Phase-II bis -III der klinischen Prüfung, ist mit Vutrisiran der nach Patisiran zweite RNAi-Wirkstoff für Patienten mit der seltenen hATTR, während es zuletzt für das gemeinsam mit Sanofi entwickelte Fitusiran einen Rückschlag gegeben hatte. Das gegen den Gerinnungshemmer Antithrombin gerichtete RNAi-Therapeutikum soll bei Patienten mit Hämophilie A und B eingesetzt werden, führte aber in der Phase-III-Studie zur vermehrten Thrombosebildung. Nun soll die klinische Testung mit geänderter Dosierung weitergehen.
Last, but not least arbeitet man bei Alnylam an Drug-Delivery-Systemen, die es erlauben, RNAi-Therapeutika in Zellen jenseits der Leber einzuschleusen, sogar ins ZNS. Sollte dies gelingen, könnte die RNA-Interferenz auch zur Behandlung von Erkrankungen wie amyotrophe Lateralsklerose (ALS), aber auch Parkinson oder erblich bedingtem Alzheimer genutzt werden, wie Dr. Kirk Brown informierte, der die entsprechende Forschungsabteilung bei der Firma leitet. So adressiere man mit einem experimentellen Alzheimer-Therapeutikum das Amyloid-Precursor-Protein (APP). Bis zu einer möglichen Zulassung sind hier jedoch noch viele Hürden zu überwinden.
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