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Demenz-Parcours

Gar nicht so einfach

Wie fühlt es sich an, wenn Kopf und Hände nicht mehr wie gewohnt zusammenarbeiten? Der Demenz-Parcours »Hands on Dementia« bietet Gesunden eine Möglichkeit, sich in die Erfahrungswelt von Menschen mit Demenz einzufühlen. Die PZ hat den Parcours besucht.
Maria Pues
12.06.2019  14:00 Uhr

Mit Messer und Gabel Fleisch, Gemüse und Salat auf drei Teller verteilen – das kann doch nicht so schwer sein. Oder doch? Wie es ist, wenn die Koordinierung zwischen Kopf und Händen nicht mehr reibungslos funktioniert, macht eine Station des Demenz-Parcours »Hands on Dementia« den Teilnehmenden deutlich. Die Station »Mittagessen« besteht aus einer Holzbox, in die die Teilnehmenden durch die ihnen zugewandte offene Seite hineingreifen können. Die obere Seite ist zur Hälfte geschlossen. Durch die offene hintere Hälfte kann man seine Hände sehen – allerdings nicht direkt, sondern über einen Spiegel, der an der hinteren Innenseite der Box angebracht ist. Die Bestandteile des Menüs werden durch Papierbällchen repräsentiert, gelbe für die Kartoffeln, rote für das Fleisch und grüne für den Salat. Zum Glück ist es nur Papier, denn das Verteilen gelingt nicht: Nicht nur die »Kartoffeln« landen neben dem Teller.

Die Holzbox stellt eine von insgesamt 13 Stationen des Parcours »Hands on Dementia« mit Aufgaben zu alltäglichen Herausforderungen dar: vom morgendlichen Anziehen über den Gang in die Stadt und den Einkauf auf dem Markt bis zum Abendessen und Schlafengehen. Die Teilnehmenden begleiten dabei die fiktive Erna Müller, die an Demenz leidet, und erleben während des Parcours, was sie erlebt. An jeder Station gibt es eine kurze Broschüre, die wichtige Hintergründe und Begriffe knapp und in allgemein verständlicher Sprache erläutert. Ganz unterschiedliche Interessenten besuchen den Parcours: Einzelpersonen unterschiedlichen Alters, zum Beispiel Angehörige von Patienten mit Demenz, aber auch Gruppen, etwa Schüler und Studierende, Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und der Altenhilfe oder Ehrenamtliche, die sich für Menschen mit Demenz engagieren. Mitarbeiter, die den Parcours im Senioren- und Pflegestützpunkt der Stadt Oldenburg betreuen, geben in Gesprächen viele Informationen.

»Wie fühlen Sie sich nach dieser Aufgabe?«, ist eine im Parcours häufig gestellte Frage, und genau darum geht es: zu erspüren, wie man selbst darauf reagiert, wenn bisher selbstverständliche und als ganz einfach empfundene Handlungen plötzlich zum Problem werden. Denn der Parcours möchte Verständnis wecken – nicht, indem er Defizite fokussiert, sondern indem er zur kreativen Lösungssuche anregt. Um Patienten mit Demenz so zu unterstützen, dass sie ihre Fähigkeiten möglichst lange behalten und ein zufriedenes Leben führen können. Was er hingegen nicht kann: zeigen, wie Demenz-Patienten die Welt sehen. Darauf weisen die Mitarbeitenden ausdrücklich hin.

So verdeutlicht die Station »Mittagessen«, wie schwierig es für Menschen mit Demenz ist, zielgerichtete Bewegungen auszuführen, denn die komplexen Bewegungsabläufe, die sie erfordern, hat ihr Gehirn nicht mehr gespeichert. Selbst scheinbar einfache Handlungen wie etwa das Essen mit Messer und Gabel fallen dann schwer. Menschen mit Demenz leiden unter Apraxie. Jeder Handgriff muss genau überlegt werden, trotzdem gelingt Vieles nicht mehr. Weitere Erkrankungen wie Sehprobleme oder die verminderte Beweglichkeit der Hände können die Tätigkeiten zusätzlich erschweren.

Fingerfood bevorzugt

Auch der gut gemeinte Rat: »Bestell' doch Essen auf Rädern, dann musst du nicht mehr selbst kochen« hilft vielen Betroffenen nicht weiter. Mahlzeiten für Patienten mit Demenz müssten auf die Erkrankung abgestimmt sein, informiert Nicole Hunfeld, die mit einer Kollegin den Parcours betreut, im Gespräch mit der PZ. Erbsen zum Beispiel seien keine gute Wahl, alles zu pürieren jedoch auch nicht, denn viele ältere Menschen möchten keine breiförmige Nahrung. Viele Patienten mit Demenz könnten jedoch gut mit den Fingern essen. Entsprechende Gerichte, zum Beispiel Fingerfood, ermöglichten es ihnen, weiterhin selbstständig zu essen – ein wichtiges Stück Lebensqualität und ein ebenso wichtiges Erfolgserlebnis, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schafft. Tatsächlich verunsichern Misserfolge die Betroffene und verstärken die Symptomatik.

Dass Vieles nicht mehr so gelingt, wie sie es erwarten, spüren Betroffene selbst. »Der Perfektionismus bleibt oft bis zuletzt«, berichtet Hunfeld. Daraus resultierten häufig Enttäuschung, Wut und Trauer. Wichtig im Umgang mit einer Demenzerkrankung sei es, nachsichtiger zu werden – mit dem Patienten, aber als Angehöriger auch mit sich selbst.

15 bis maximal 20 Personen können den Parcours gleichzeitig durchlaufen, ohne dass es zu längeren Wartezeiten an den einzelnen Stationen kommt. Mehr können auch die Mitarbeitenden nicht gleichzeitig betreuen, die als Ansprechpartner bereitstehen: um beim Lösen der Aufgaben zu unterstützen und mit den Teilnehmenden über ihre Reaktionen zu sprechen. Ungeduld, Ärger oder Wut kommen häufig vor, weil die Aufgaben einen mehr fordern als gedacht. Und es wird »geschummelt«. »Bei Menschen mit Demenz ist das gar nicht so selten«, berichtet Hunfeld. »Sie können sehr erfinderisch sein, um ein Problem auf ihre Weise zu lösen.«

Einfache Patentrezepte für den Umgang mit Demenz-Patienten liefert der Parcours nicht. Denn trotz vieler Gemeinsamkeiten, gibt es zahlreiche Unterschiede: verschiedene Demenzformen, unterschiedlich betroffene Hirnregionen und Symptome, aber auch eine wechselnde Tagesform. Viele kreative und individuelle Lösungen sind daher gefragt. Wer die Schwierigkeiten von Menschen mit Demenz nicht nur theoretisch versteht, sondern praktisch erspürt hat, kann Antworten zum Umgang mit der Erkrankung leichter finden. Das war auch der Ausgangspunkt des Psychologiestudenten Leon Maluck, Jahrgang 1997. 2015 hat er begonnen, »Hands on Dementia« zu entwickeln. Freunde und Familie haben ihn dabei unterstützt und Fachleute ihre Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Demenz beigesteuert.

Dass der Parcours im Senioren- und Pflegestützpunkt der Stadt Oldenburg nur stundenweise aufgebaut und nach Terminabsprache besucht werden könne, bedauerten viele Teilnehmer. Die Termine für dieses Jahr sind bereits ausgebucht. Anfragen für das kommende Jahr gibt es aber bereits. 

Form Merkmale
Apraxie Störung der Ausführung willkürlicher zielgerichteter und geordneter Bewegung bei intakter motorischer Funktion, mit Unfähigkeit, Gegenstände sinnvoll zu verwenden
Aphasie erworbene Störung der Sprache aufgrund einer Schädigung der Sprachregion meist in der linken Hirnhälfte, meist sind Sprachverstehen und Sprachproduktion beeinträchtigt
Zeitgitterstörung Gedächtnis-Störung mit Unfähigkeit, Gedächtnisinhalte in das richtige Zeitraster (Gegenwart, Vergangenheit) einzuordnen, Gegenwart wird beispielsweise als Vergangenheit erlebt
Intrusion ungewolltes Wiedererinnern an belastende Erlebnisse oder Traumata, ausgelöst durch einen Schlüsselreiz oder spontan
Häufige Einschränkungen bei Demenz

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