Fumarat der nächsten Generation |
Sven Siebenand |
04.02.2022 07:08 Uhr |
Multiple Sklerose ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems mit unterschiedlichen Verlaufsformen. Dabei zerstören körpereigene Immunzellen die Schutzschicht der Nervenfasern im Gehirn und im Rückenmark. / Foto: Shutterstock/UnderhilStudio
Diroximelfumarat und Dimethylfumarat sind Prodrugs, die in vivo zum aktiven Metaboliten Monomethylfumarat umgewandelt werden. Wie dieser Metabolit genau bei MS wirkt, ist bis dato noch unbekannt. Es wird angenommen, dass Monomethylfumarat die Wirkung des Proteins Nrf2 verstärkt. Die Aktivierung von Nrf2 und die daraus resultierende erhöhte Produktion von Antioxidanzien scheint zu helfen, die Aktivität des Immunsystems zu kontrollieren und Schädigungen des Gehirns und des Rückenmarks bei MS zu reduzieren.
Grundlage der Zulassung von Vumerity waren die Ergebnisse pharmakokinetischer Überbrückungsstudien. Sie zeigten, dass Diroximelfumarat und Dimethylfumarat in Bezug auf die Exposition gegenüber Monomethylfumarat vergleichbar sind. Daher wird davon ausgegangen, dass sich die Wirksamkeitsprofile ähneln. Auch das Langzeit-Sicherheits- sowie das Wirksamkeitsprofil von Dimethylfumarat waren wichtige zu berücksichtigende Aspekte. Langzeitdaten der Endorse-Studie bei Patienten, die bis zu 13 Jahre mit Tecfidera behandelt wurden, zeigen eine anhaltend niedrige Schubrate: Bei den von Anfang an mit Dimethylfumarat therapierten Patienten lag die mittlere jährliche Schubrate bei 0,14.
Wie Tecfidera ist auch Vumerity bei Erwachsenen mit schubförmig remittierend verlaufender Multipler Sklerose (RRMS) zugelassen. Die Rationale für die Markteinführung einer neuen Fumarat-Therapie sind Verträglichkeitsaspekte. Denn Dimethylfumarat bereitet nicht wenigen Patienten gastrointestinale Beschwerden, da beim Abbau zu Monomethylfumarat auch Methanol entsteht. Hier bietet Diroximelfumarat Vorteile, wie auch die Studie EVOLVE-MS-2 zeigt.
In dieser ebenfalls für die Zulassung relevanten Studie wurde die gastrointestinale Verträglichkeit der beiden Fumarate bei mehr als 500 RRMS-Patienten über einen fünfwöchigen Behandlungszeitraum randomisiert untersucht. Die Patienten erhielten entweder Diroximelfumarat oder Dimethylfumarat. Gastrointestinale Nebenwirkungen wurden insgesamt bei 34,8 Prozent der Patienten unter Diroximelfumarat und bei 49 Prozent der Patienten unter Dimethylfumarat beobachtet. Zu Therapieabbrüchen aus Gründen der Magen-Darm-Verträglichkeit kam es unter Diroximelfumarat bei 0,8 Prozent der Behandelten und bei 4,8 Prozent unter Dimethylfumarat. Vorteile zugunsten des neuen Fumarats bestehen also, allerdings sind Magen-Darm-Nebenwirkungen noch immer sehr häufig.
Patienten nehmen in den ersten sieben Tagen einer Vumerity-Therapie zweimal täglich 231 mg (eine Kapsel) ein, anschließend dann zweimal täglich 462 mg (zwei Kapseln). Die Dosis kann bei Patienten, bei denen Nebenwirkungen wie Hautrötungen oder Magen-Darm-Probleme auftreten, vorübergehend verringert werden. Für Patienten, die unter Hitzegefühl oder gastrointestinalen Nebenwirkungen leiden, kann die Einnahme von Vumerity zusammen mit einer Mahlzeit die Verträglichkeit verbessern.
Vor Therapiebeginn und danach in regelmäßigen Abständen sollten Nieren- und Leberparameter bestimmt und ein Blutbild, einschließlich Lymphozyten, erstellt werden. Die Behandlung darf bei schwerer Lymphopenie nicht erfolgen. Erhöhte Wachsamkeit aufgrund eines erhöhten Risikos für eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist bei Patienten mit Lymphopenie angeraten. PML, ob vermutet oder bestätigt, stellt eine Kontraindikation für den Einsatz von Vumerity dar.
Patienten sollten wissen, dass sie Symptome von Infektionen immer dem Arzt mitteilen müssen. Lebendimpfstoffe sollten ihnen nicht verabreicht werden.
In der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, wird Vumerity nicht empfohlen. Bei Stillenden ist zu entscheiden, ob die Pharmakotherapie oder das Stillen ausgesetzt werden.
Diroximelfumarat ist eine typische Schrittinnovation. Der Neuling bringt die orale Fumarat-Therapie bei MS einen Schritt voran – nicht hinsichtlich der Wirksamkeit, aber in Sachen Verträglichkeit. Die Ergebnisse der Studie EVOLVE-MS-2 zeigen, dass Diroximelfumarat gastrointestinal besser verträglich ist als Dimethylfumarat und weniger Patienten die Therapie abbrechen. Auch im Alltag sowie im Berufsleben zeigten sich Vorteile von Diroximelfumarat. So fand man weniger Beeinträchtigung von Alltagsaktivitäten durch Magen-Darm-Symptome und einen geringeren Einfluss auf die Arbeitsproduktivität als unter Dimethylfumarat. Unter Diroximelfumarat benötigen auch weniger Patienten eine Begleitmedikation zur Behandlung gastrointestinaler Symptome, etwa Antacida.
Sicher muss nicht jeder Tecfidera-Patient nun auf Vumerity umgestellt werden. Ärzte können aber an das neue Präparat denken, wenn sie MS-Patienten erstmals auf ein Fumarat einstellen. Gegebenenfalls ist ein Wechsel zu Diroximelfumarat auch zu erwägen, wenn Patienten unter Dimethylfumarat dauerhaft mit Problemen im Gastrointestinaltrakt zu kämpfen haben.
Sven Siebenand, Chefredakteur