| Kerstin A. Gräfe |
| 26.03.2025 07:00 Uhr |
Frauen sind von Migräne häufiger betroffen als Männer. Bei einer Attacke treten typischerweise starke, pulsierende Kopfschmerzen auf, meist auf nur einer Seite des Kopfes. / © Adobe Stock/mariesacha
Rund 91 Prozent der Patienten leiden an einer episodischen Migräne (EM), definiert als Migräne an bis zu 14 Tagen pro Monat über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten. Bei den übrigen 9 Prozent liegt eine chronische Migräne (CM) vor. Bei dieser Form haben die Betroffenen Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen pro Monat, davon mindestens acht Tage migräneartig. Eine CM entwickelt sich häufig aus einer EM mit steter Zunahme der Kopfschmerzhäufigkeit. Bei beiden Verlaufsformen ist die Krankheitslast hoch; die Lebensqualität und Alltagsfunktionalität sind oft erheblich beeinträchtigt.
Eine zentrale Rolle in der Pathophysiologie der Erkrankung spielt das inflammatorische Neuropeptid Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). Der Botenstoff ist beteiligt an der Schmerzweiterleitung und Entzündungsreaktion. Zudem bewirkt er eine Freisetzung vasoaktiver Verbindungen aus bestimmten Zellen, die eng mit den Schmerzrezeptoren der Hirnhaut assoziiert sind und zu einer Gefäßerweiterung führen.
Patienten mit EM oder CM profitieren bereits seit einigen Jahren von Anti-CGRP-Antikörpern wie Erenumab (Aimovig®, Novartis), Galcanezumab (Emgality®, Eli Lilly), Fremanezumab (Ajovy®, Teva) und Eptinezumab (Vyepti®, Lundbeck). Während Erenumab den CGRP-Rezeptor hemmt, binden die anderen drei Antikörper CGRP. Sie werden entweder subkutan oder intravenös appliziert. Mit Atogepant ist erstmals ein oraler CGRP-Rezeptorantagonist verfügbar. Er interagiert mit mehreren Rezeptoren der CGRP-Familie, darunter CGRP und Amylin-1. Der genaue Wirkmechanismus ist unbekannt.
Atogepant (Aquipta® 10 mg und 60 mg Tabletten, Abbvie) ist zugelassen zur Prophylaxe von Migräne bei Erwachsenen mit mindestens vier Migränetagen pro Monat. Die empfohlene Dosis beträgt einmal täglich 60 mg. Bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz sollte die Dosis auf 10 mg reduziert werden. Dialysepatienten sollten die Dosis nach der Dialyse einnehmen. Bei Patienten mit schwerer Leberinsuffizienz wird die Anwendung von Atogepant nicht empfohlen.
Dosisanpassungen auf 10 mg pro Tag sind auch bei gleichzeitiger Anwendung von Atogepant mit starken CYP3A4-Hemmern (zum Beispiel Ketoconazol, Itraconazol, Clarithromycin und Ritonavir) oder mit Organo-Anion-Transporter-Polypeptid-(OATP-)Inhibitoren wie Rifampicin oder Ciclosporin erforderlich.
Die Tabletten können mit oder ohne einer Mahlzeit eingenommen werden. Wenn eine Einnahme versäumt wurde, ist diese so schnell wie möglich nachzuholen. Wenn die Einnahme einen ganzen Tag lang versäumt wurde, ist die verpasste Dosis auszulassen und die nächste Dosis wie vorgesehen einzunehmen.
Eine Atogepant-Therapie kann mit schwerwiegenden Überempfindlichkeitsreaktionen, einschließlich Anaphylaxie, Dyspnoe, Ausschlag, Juckreiz, Nesselsucht und Gesichtsödem einhergehen. Die meisten Reaktionen treten innerhalb von 24 Stunden nach der ersten Einnahme des Wirkstoffs auf. Bei Auftreten von Symptomen einer Überempfindlichkeit sollen Patienten den Wirkstoff sofort absetzen.
Schwangere und Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, sollten den CGRP-Rezeptorantagonisten nicht einnehmen. In der Stillzeit ist eine Entscheidung zu treffen, ob auf Atogepant verzichtet oder das Stillen unterbrochen werden soll.
Die Zulassung basiert auf den randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Phase-III-Studien ADVANCE und PROGRESS. An der ADVANCE-Studie nahmen Patienten mit EM teil, die durchschnittlich an etwa acht Tagen pro Monat Migräne hatten. Sie erhielten randomisiert entweder 60 mg Atogepant (n = 226) oder Placebo (n = 216) einmal täglich. Der primäre Endpunkt war die Veränderung der mittleren monatlichen Migränetage gegenüber dem Ausgangswert über den zwölfwöchigen Behandlungszeitraum.
Unter Atogepant verringerte sich signifikant die Anzahl der Migränetage von durchschnittlich 7,8 auf 3,7 Tage; in der Placebogruppe gingen die Migränetage von 7,5 auf 5,0 Tage zurück. Außerdem erreichte die Mehrzahl der mit Atogepant Behandelten eine mindestens 50-prozentige Reduktion der mittleren monatlichen Migränetage (50-Prozent-Responderrate) über drei Monate hinweg (sekundärer Endpunkt). Signifikante Verbesserungen zeigten sich auch in weiteren sekundären Endpunkten wie einer Reduktion des Bedarfs an Akutmedikation und der Parameter für Funktionseinschränkungen.
In die PROGRESS-Studie waren Patienten mit chronischer Migräne eingeschlossen. Die durchschnittliche Anzahl der Migränetage pro Monat betrug bei Studienbeginn rund 19 Tage. Sie verringerte sich nach zwölfwöchiger Behandlung mit einmal täglich 60 mg Atogepant um 6,9 Tage und unter Placebo um 5,1. Signifikante Ergebnisse zugunsten von Atogepant fanden sich auch für die Lebensqualitätsparameter, die mithilfe des AIM-D (Activity Impairment in Migraine Diary) und des MSQ v2.1 (Migraine specific Quality of Life Questionnaire) ermittelt wurden.
Die häufigsten Nebenwirkungen waren Übelkeit, Verstopfung und Fatigue/Somnolenz. Aufgrund Letzterer ist beim Führen eines Fahrzeugs oder dem Bedienen von Maschinen so lange Vorsicht geboten, bis hinreichend sicher ist, dass Atogepant die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt.
Aquipta ist ab Markteintritt voll verordnungs- und erstattungsfähig.
Nachdem die gegen CGRP beziehungsweise den CGRP-Rezeptor gerichteten Antikörper für die Migräneprophylaxe schon einige Jahre verfügbar sind, gibt es nun mit Atogepant einen ersten oralen CGRP-Rezeptorantagonisten. Er ist vorläufig als Schrittinnovation einzustufen.
Nicht nur das Target von Atogepant ist identisch mit dem der Antikörper, sondern auch das zugelassene Anwendungsgebiet. Die Einnahme als Tablette kann für Patienten mit Spritzenangst ein Vorteil sein, stellt andererseits aber hohe Anforderungen an die Therapietreue.
Anders als die anderen oral verfügbaren Wirkstoffe zur Migräneprophylaxe wurde Atogepant speziell dafür entwickelt. Die Studien brachten einen Wirksamkeitsnachweis für die Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne. Langzeitdaten zeigen, dass keine Tachyphylaxie auftritt – auch das ist ein wichtiges Ergebnis.
Direkte Vergleichsstudien zwischen Atogepant und den Antikörpern gibt es bisher nicht, wären aber wünschenswert. Eine Metaanalyse stellte anhand eines indirekten Vergleichs in Sachen Wirksamkeit keine nennenswerten Unterschiede zwischen den vier monoklonalen Antikörpern und Atogepant fest. Auch bezüglich schwerwiegender Nebenwirkungen ist das der Fall. Da Atogepant als small Molecule aber im Gegensatz zu den Antikörpern die Blut-Hirn-Schranke überwindet, kann es zentralnervöse Nebenwirkungen hervorrufen. Zudem ist in Sachen Wechselwirkungen ein waches Auge auf die Begleitmedikation zu richten.
Auch wenn es keine Kontraindikation ist: Wie bei den Antikörpern sollte man bei Hochrisikopatienten für ein kardiovaskuläres Ereignis mit der Verordnung von Atogepant etwas vorsichtiger sein. Die Rationale dahinter ist die protektive Funktion von CGRP im kardiovaskulären System. Von den Studien ADVANCE und PROGRESS waren Hochrisikopatienten ausgeschlossen.
Mit Interesse darf man auch auf weitere Studiendaten und mögliche weitere Einsatzgebiete von Atogepant warten, etwa die Akuttherapie von Migräne oder die Migräneprophylaxe bei Kindern.
Sven Siebenand, Chefredakteur