Empfehlungen zu Abnehmmitteln veröffentlicht |
Annette Rößler |
24.10.2022 17:00 Uhr |
Der Weg zum Wunschgewicht ist für Menschen mit Adipositas bekanntlich weit und beinhaltet zwangsläufig eine Umstellung der Lebensgewohnheiten. Medikamente können aber unterstützen, sagen US-Mediziner. / Foto: Adobe Stock/Anatta_Tan
Es ist seit Jahren dasselbe: Jedes Mal, wenn neue Zahlen zur Häufigkeit von Übergewicht und Fettleibigkeit in den Industriestaaten veröffentlicht werden, sind sie höher als zuvor. Für Europa stammen die aktuellsten Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2016 (siehe Kasten). Seitdem dürfte sich das Problem unter anderem auch durch die Lockdowns und Homeoffice-Regelungen während der Coronapandemie weiter verschärft haben.
Übergewicht (BMI 25 bis 29,9) und Adipositas (BMI ≥ 30) haben laut WHO in Europa »epidemische Ausmaße« erreicht. In ihrem Europäischen Adipositas-Report 2022 gibt die WHO die geschätzten Häufigkeiten von Übergewicht mit 59 Prozent der erwachsenen Bevölkerung und von Adipositas mit 23 Prozent an. Männer seien häufiger übergewichtig bis adipös als Frauen (63 versus 54 Prozent), während Frauen etwas häufiger adipös seien als Männer (24 versus 22 Prozent). In Deutschland waren 2016 laut dem Bericht an die 65 Prozent der Männer übergewichtig bis adipös (Frauen unter 50 Prozent) und 24 Prozent der Männer adipös (20 Prozent der Frauen).
In den USA haben noch mehr Menschen Gewichtsprobleme als in Europa. Dort gibt die American Gastroenterology Association (AGA) den Anteil der erwachsenen Bevölkerung mit Adipositas in den Jahren 2019/2020 mit 42 Prozent an. »Lebensstilinterventionen bilden die Grundpfeiler des Managements der Adipositas, aber sie sind bei den meisten Menschen nur begrenzt und nur vorübergehend wirksam«, konstatiert die AGA jetzt im Fachjournal »Gastroenterology«. Dagegen könnten Medikamente das Abnehmen sehr wirksam unterstützen und auch über längere Zeiträume gegeben werden.
Die AGA legt in dem Artikel die erste Leitlinie vor, die sich ausschließlich medikamentösen Antiadiposita widmet, und will diese als Ergänzung zu ihren kürzlich veröffentlichten Empfehlungen bezüglich der Magenballontherapie verstanden wissen. Mit der Veröffentlichung der Leitlinie verbindet die Fachgesellschaft implizit die Hoffnung, dass Medikamente bei Adipositas häufiger eingesetzt werden. Das geschehe noch zu selten, wahrscheinlich weil viele Ärzte mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht ausreichend vertraut seien, aber auch, weil viele betroffene Patienten nicht krankenversichert seien und sich die Therapie daher nicht leisten könnten.
Die AGA-Leitlinie beinhaltet folgende Empfehlungen:
Damit erhält das Inkretinmimetikum Semaglutid, das in der Dosierung 2,4 mg einmal wöchentlich als Wegovy® auch in der EU als Abnehmmittel zugelassen ist, den Vorzug vor den anderen Alternativen. Es wirkt wie Liraglutid als Agonist an Rezeptoren für das Glucagon-Like-Peptide-1 (GLP-1). Liraglutid steht zur Gewichtsreduktion auch in Europa als Saxenda® in der Dosierung 3 mg einmal täglich zur Verfügung. Da beide Wirkstoffe ursprünglich zur Therapie von Patienten mit Typ-2-Diabetes entwickelt wurden, sieht die AGA hier einen Vorteil insbesondere für adipöse Diabetiker. Einschränkend verweist sie auf ein möglicherweise erhöhtes Risiko für Pankreatitis und Gallenleiden unter der Therapie mit GLP-1-Rezeptoragonisten.
Die Fixkombination Phentermin/Topiramat ist in den USA als Qsymia® im Handel. In Europa hätte das Präparat Qsiva® heißen sollen, doch Hersteller Vivus scheiterte zweimal mit einem Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), zuletzt 2013. Phentermin ist ein Amfetaminderivat, das den Hunger durch eine zentrale Noradrenalin-Freisetzung dämpft. Topiramat, das eigentlich als Antiepileptikum eingesetzt wird, hat in dieser Indikation Gewichtsabnahme als Nebenwirkung, wobei unklar ist, wie dieser Effekt genau zustande kommt.
Die EMA begründete die Ablehnung der Zulassung von Qsiva mit Sicherheitsbedenken: Phentermin erhöhe die Herzfrequenz und Topiramat könne Depressionen, Angst sowie Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen verursachen. Zudem ist die Anwendung von Topiramat in der Schwangerschaft mit einem erhöhten Missbildungsrisiko verbunden, insbesondere für Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten. Im Fall einer Zulassung von Qsiva wäre es aus Sicht der EMA kaum zu verhindern gewesen, dass auch Schwangere das Medikament einnehmen.
Die US-Arzneimittelbehörde FDA hatte diese Bedenken zwar grundsätzlich auch und ordnete an, dass Qsymia nur im Rahmen eines besonderen Risikominimierungsplans in den Handel gebracht werden darf. Dieser sieht beispielsweise vor, dass die Abgabe auf bestimmte Apotheken beschränkt ist. Nichtsdestotrotz bewertete die FDA das Nutzen-Risisko-Verhältnis von Phentermin/Topiramat positiv. Erst vor Kurzem sprach sie sogar eine Zulassungserweiterung des Präparats für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren aus.
Die Kombination aus dem Opioid-Antagonisten Naltrexon mit dem Amfetamin Bupropion, die in den USA als Contrave® auf dem Markt ist, wurde in der EU 2015 zwar als Mysimba® zugelassen und 2018 in Deutschland auf den Markt gebracht, von Hersteller Cheplapharm 2020 aber aus dem Handel genommen. Apotheker und Ernährungswissenschaftler Professor Dr. Martin Smollich vom Uniklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck warnte bereits anlässlich der Markteinführung in einem Blogeintrag eindringlich vor der Anwendung und verwies auf noch fehlende Sicherheitsdaten, die für das Jahr 2022 zu erwarten seien – aber bislang offenbar noch nicht vorgelegt wurden.
Bupropion wird auch zur Behandlung von Depressionen und zur Raucherentwöhnung verwendet. Daher hält die AGA einen Einsatz der Wirkstoffkombination insbesondere bei adipösen Rauchern und bei depressiven Patienten mit Adipositas für möglich. Krampfanfälle sind eine mögliche Nebenwirkung von Bupropion, sodass es Patienten mit entsprechender Grunderkrankung nicht gegeben werden sollte. Blutdruck und Herzfrequenz sollten unter der Therapie engmaschig überwacht werden, vor allem in den ersten zwölf Wochen.
Phentermin als Monosubstanz wird in den USA als Adipex-P® vermarktet, Amfepramon auch in Deutschland unter anderem als Tenuate® und Regenon®. Die Amfetamine sollten bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen nicht eingesetzt werden und bei Herz-Kreislauf-Gesunden sollen unter der Anwendung regelmäßig Blutdruck und Herzfrequenz kontrolliert werden. Da die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen bei der Anwendung Amfepramon-haltiger Präparate in der Praxis offenbar häufig nicht eingehalten werden, empfahl die EMA im Juni 2022, die Zulassung zu widerrufen. Dagegen haben die Hersteller aber Widerspruch eingelegt und eine erneute Überprüfung durch die Behörde beantragt. Diese neuerliche Beurteilung läuft zurzeit noch.
Die deutsche S3-Leitlinie »Prävention und Therapie der Adipositas« ist seit drei Jahren abgelaufen. Neuere Entwicklungen wie die Zulassung der Inkretinmimetika als Antiadiposita können daher darin noch nicht berücksichtigt sein. Die Leitlinie räumte der medikamentösen Therapie bei Adipositas nur eine mögliche unterstützende Rolle im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts ein, das daneben auch Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie umfasst.
Eine Ernährungstherapie gehört zum Basisprogramm für Patienten mit Adipositas, die abnehmen wollen. / Foto: Getty Images/Hinterhaus Productions
Genau entgegengesetzt zur aktuellen Empfehlung der AGA sprachen sich die deutschen Leitlinienautoren ausschließlich für die Verwendung des Lipasehemmers Orlistat (zum Beispiel Xenical®) aus. Alle anderen Medikamente zur Gewichtsreduktion (auch im Off-Label-Gebrauch) erhielten eine Negativempfehlung. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) als beteiligte Fachgesellschaft verwies in einem Sondervotum mit Blick auf die GLP-1-Rezeptoragonisten auf eine (zum damaligen Zeitpunkt) unzureichende Studienlage und ein möglicherweise erhöhtes Risiko für Pankreatitis und/oder Pankreastumoren.
Es wird interessant sein zu erfahren, ob sich diese Einschätzung geändert haben wird, wenn die Leitlinie aktualisiert wird. Auch eine Empfehlung der Inkretinmimetika zur Unterstützung der Gewichtsreduktion bei Adipositas – oder auch von künftigen Neuentwicklungen wie etwa dem GLP-1/GIP-Agonisten Tirzepatid – würde allerdings an der Tatsache nichts ändern, dass betroffene Patienten in Deutschland die Therapie aus eigener Tasche bezahlen müssen, weil sie momentan noch als sogenannte Lifestyle-Präparate gesehen werden.