Eine Patientin, zwei Ärzte, drei Medikationspläne |
Daniela Hüttemann |
11.11.2022 11:00 Uhr |
Frau J. beklagte sich in der Apotheke: »Ich kann ja nicht den ganzen Tag Tabletten schlucken« — die Patientin hat nicht übertrieben, stellte Apotheker Stefan Göbel bei einer Medikationsanalyse fest (Symbolbild). / Foto: Getty Images/Aitor Diago
Diesen Sommer kam Frau J. in die Brücken-Apotheke von Stefan Göbel im nordhessischen Heringen. Die resolute Rentnerin hatte von den pharmazeutischen Dienstleistungen gehört. Sie habe so viele Medikamente von so vielen Ärzten verschrieben bekommen und wolle nun gern ihre Medikation überprüfen lassen. »Eigentlich hatte ich in dem Moment gar keine Zeit«, berichtet der Apotheker. »Daher habe ich sie erst einmal gefragt, was sie am meisten stören würde.«
Als Antwort kam, »sie könne ja nicht den ganzen Tag Tabletten schlucken«. Außerdem habe sie fürchterliche Wadenkrämpfe. Und irgendwie würden die Ärzte immer etwas Verschiedenes verschreiben, ob die denn nicht voneinander wüssten – genug Gründe, um bei Göbel die Alarmglocken schrillen zu lassen und direkt einen Blick auf die Medikation zu werfen. Es folgte dann doch eine ausführliche Medikationsanalyse, die der Apotheker auch als pharmazeutische Dienstleistung abrechnete. Den Fall stellte Göbel auch im Rahmen seines Projekts »100 Medikationsanalysen später« am gestrigen Abend bei einem Webinar von Pharma4u vor.
Fast alles doppelt: Die Patientin hatte zwei Verordner. / Foto: Stefan Göbel
Die Patientin hatte auch zwei ausgedruckte Medikationspläne mitgebracht – und genau darin lag das größte Problem: Zwei Ärzte hatten unwissentlich voneinander fast alles doppelt verordnet, zum Beispiel der eine Pravastatin 40 mg einmal täglich plus Ezetimib 10 mg einmal täglich, der andere ein Kombipräparat aus Atorvastatin und Ezetimib (20 mg/10 mg) einmal täglich.
Immerhin gab es zwei ordentlich geführte Medikationspläne. / Foto: Stefan Göbel
Auch waren zwei verschiedene L-Thyroxin-Präparate verordnet, einmal mit, einmal ohne Jod. Hinzu kamen Amlodipin, Bisoprolol, drei verschiedene Vitamin-D-Präparate sowie mit Omeprazol (40 mg einmal täglich) und Pantoprazol (20 mg bei Bedarf) zwei verschiedene Protonenpumpen-Inhibitoren. Und aufgrund ihrer Wadenkrämpfe zwei verschiedene Magnesium-Präparate und Chinin. Insgesamt waren es jeweils mehr als ein Dutzend Dauermedikamente.
So hatte die Patientin die Tabletteneinnahme über den Tag verteilt. / Foto: Stefan Göbel
»Die Patientin hatte zwar in der Vergangenheit immer alles eingelöst, glücklicherweise aber bis auf die beiden PPI und das Magnesium nicht alles doppelt eingenommen «, stellte Göbel auf Nachfrage fest. »Sie hatte sich stattdessen aus den beiden ausgedruckten ärztlichen Medikationsplänen das herausgesucht, was sie am besten fand und daraus ihren eigenen handschriftlichen Medikationsplan erstellt.«
Frau J. hatte hier die Einnahmezeitpunkte notiert: Für jedes Arzneimittel einen eigenen, sodass sie tatsächlich den ganzen Tag mit der Tabletteneinnahme beschäftigt war (07:45, 08:00, 09:00, 09:30, 10:00, 10:30, 12:30, 15:00, 18:00, 19:00, 19:30, 20:00 und 21:00 Uhr). »Ihr Einwand, sie könne ja nicht den ganzen Tag Medikamente schlucken, war also durchaus berechtigt«, so Göbel.
Als Erstes ging der Apotheker natürlich die Doppelmedikationen an. Dazu riet er Frau J., ihrem Hausarzt möglichst bald mitzuteilen, dass ein weiterer Arzt mitverschreibt. »Da hat sie mich groß angeschaut und gefragt, ob die das nicht automatisch voneinander wüssten, was ich leider verneinen musste«, berichtet Göbel.
Der Fall zeige sehr schön, wie wichtig es sei, dass jemand einen Blick auf die Gesamtmedikation habe und es dabei nicht um die Schuldfrage gehe. »In der Apotheke gingen wir bei der Einlösung davon aus, die Medikation sei umgestellt worden, die Ärzte wussten nichts voneinander und Frau J. dachte, dass in einem modernen Land wie dem unseren alles schon zusammenläuft«, so Göbel. Ein solcher Fall könne auch zweifelnde Ärzte vom Nutzen der pharmazeutischen Dienstleistung erweiterte Medikationsberatung überzeugen. »Als Apotheker können wir ihnen berichten, was der Patient tatsächlich alles mit seinen Medikamenten macht.«
Die beiden Ärzte verständigten sich dann darauf, dass nur noch der Hausarzt die Dauermedikation verordnet. Göbel hatte nach einer ausführlichen Medikationsanalyse noch weitere Vorschläge zur Optimierung gemacht. »So konnten wir die Einnahmezeitpunkte deutlich reduzieren, worüber sich die Patientin sehr gefreut hat«, so der Apotheker.
Neben dem doppelten Magnesium nahm die Patientin noch Chinin gegen die Wadenkrämpfe ein und hatte darüber hinaus vom anderen Arzt Dimenhydrinat gegen Schwindel verordnet bekommen. Die gemeinsame Einnahme von Chinin und Dimenhydrinat ist jedoch laut Interaktionscheck aufgrund der Gefahr von Herz-Rhythmus-Störungen absolut kontraindiziert. Somit hatte Göbel noch eine wichtige, klinisch relevante Wechselwirkung aufgedeckt. Das Dimenhydrinat wurde daraufhin abgesetzt.
»Vor dem Hintergrund der Polymedikation habe ich dann noch geschaut, ob die Wadenkrämpfe vielleicht durch einen medikamentös verursachten Magnesium-Mangel verursacht sein könnten.« Unter Verdacht standen hier das Omeprazol, das einen Magnesium-Mangel auslösen kann, und das Amlodipin, unter dem es häufig zu Muskelkrämpfen kommt.
In Rücksprache mit dem Arzt wurde das Omeprazol abgesetzt und stattdessen das Pantoprazol weitergeführt. Das Chinin behielt die Patientin auf ihren eigenen dringenden Wunsch bei. Apotheker Göbel optimierte aber zusätzlich die bisherigen Magnesium-Präparate auf besser bioverfügbares Magnesiumcitrat. »Diese Maßnahmen haben ausgereicht, um die Wadenkrämpfe deutlich zu reduzieren.«
Sicherlich ließe sich die Medikation noch weiter optimieren. Bevor man sich jedoch in den Details verliere, müsse man das große Ganze im Blick behalten und hier vor allem die Gesundheit und Zufriedenheit der Patientin. »Am wichtigsten ist das Patientengespräch und das man gut zuhört«, meint Göbel.
Vor Kurzem sei Frau J., eine Frau mit trockenem Humor, wieder in der Apotheke gewesen. »Auf meine Frage, wie es ihr denn nun gehen würde, antworte sie zwar ›miserabel wie immer‹«, erzählt der Apotheker. Aber als er nachhakte, wie es um die Medikamente stehe, sagte sie: »Ach die, die sind jetzt super.«
Um seine langjährigen Erfahrungen zur Medikationsanalyse zu teilen und anderen Apotheken den Einstieg in die erweiterte Medikationsberatung als pharmazeutische Dienstleistung zu erleichtern, hat Apotheker Stefan Göbel das Projekt »100 Medikationsanalysen später« initiiert. Dieser Patientenfall bildete den Auftakt einer Reihe von Best-Practise-Beispielen mit gleichzeitigem Erfahrungsaustausch in Kooperation mit Pharma4u. Auch die PZ wird einige der echten Fallbeispiele vorstellen. Mehr Information und Anmeldung unter www.pharma4u.de/100analysen.