Ein Held unter den Genetikern |
Theo Dingermann |
21.10.2022 07:00 Uhr |
Würde man heutige Molekularbiologen beispielsweise nach identitätsgebenden Charakteristika der Zelllinien fragen, mit denen sie arbeiten, würde man in staunende Augen schauen. Nicht zuletzt beruht ein immer wieder auftretendes Problem in den Naturwissenschaften – das Problem einer unabhängigen Nicht-Reproduzierbarkeit – darauf, dass mit schlecht charakterisiertem Zellmaterial gearbeitet wird. So würde etwa eine kritische Überprüfung der in vielen Laboratorien eingesetzten HeLa-Zellen ein katastrophales Bild zeigen.
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Letztlich beschreibt Mendel die Vererbung von sieben Paaren konstanter Charaktere. Fünf Merkmale betrafen die Pflanze selbst: die Blütenfarbe, die Form der reifen Schoten, die Farbe der unreifen Schoten, die Stellung der Blüten und unterschiedliche Stiellängen. Die verbleibenden zwei bezogen sich auf Farbe (gelb versus grün) und Form (rund versus runzelig) der Samen. Mendel verfolgte diese Pflanzenmerkmale über vier oder fünf Generationen und die Samenmerkmale über sechs Generationen.
Durch Kreuzung nach manueller Bestäubung produzierte und charakterisierte Mendel über acht Jahre mehr als 10.000 Pflanzen. Diese gewaltige, systematisch geordnete Datenbasis erlaubte es ihm, nicht nur zu erkennen, dass die von ihm ausgewählten Merkmale nach ganz bestimmten Regeln von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Durch detaillierte quantitative Auswertungen der Nachkommen aus seinen Kreuzungsexperimenten konnte er zudem Regeln ableiten, wie häufig ein Merkmal im Vergleich zu dem konkurrierenden Merkmal auftreten wird.
Natürlich hatten zur damaligen Zeit auch andere Wissenschaftler die für den Laien verwirrende Segregation beispielsweise von Samenfarbe und -form bei Erbsen beobachtet. Aber keiner außer Mendel erkannte die Regeln, auf deren Basis diese Merkmale nach unterschiedlichen Kreuzungsarten auftraten. Und selbst auf der Basis der quantitativen Auswertungen der Ergebnisse der Mendelschen Kreuzungsexperimente die statistischen Regeln abzuleiten, war alles andere als trivial.
Mendel war jedoch vertraut mit Phänomenen wie Variation und Stochastik. Und ganz offensichtlich hatte er ein großes Interesse an Zahlen. Daher war es nur konsequent, dass er die quantitativen Verhältnisse der von ihm ausgewählten Merkmale nicht nur einzeln, sondern auch in Kombination analysierte, um dann seine Ausgangshypothese einer »nicht vermischenden«, das heißt einer unabhängigen, Vererbung der Merkmale unter den Nachkommen bestätigt zu sehen. Diese Gesetzmäßigkeit gilt als die dritte Meldelsche Regel, die auch als »Unabhängigkeitsregel oder Neukombinationsregel« bekannt ist. Die anderen beiden heißen »Uniformitätsregel« und »Spaltungs- oder Segregationsregel«.
Dass Mendel zweifelsohne auch Daten verworfen hat, weil sie nicht zu seinen Hypothesen »passten«, wird ihm von Kritikern zum Vorwurf gemacht. Das ist aber überzogen. Denn man muss berücksichtigen, dass Mendel unter extrem fehleranfälligen Bedingungen forschte. Sein Experimentierraum war ein Wind und Wetter ausgesetzter Klostergarten und kein hochtechnisiertes Gewächshaus. Obwohl er intelligente Verfahren entwickelte, um beispielsweise Windbestäubungen auszuschließen, ist es plausibel, dass das nicht immer gelang. So klappten nicht alle Experimente und in solchen Fällen ist es wissenschaftlich korrekt, die entsprechenden Ergebnisse zu verwerfen, da sie das Gesamtergebnis des Versuchsansatzes extrem verfälscht hätten.
In der Publikation Mendels von 1866 findet man eine Auskunft zu potenziellen Limitationen der beschriebenen Forschungsarbeit, wie sie heute von guten Zeitschriften gefordert wird. Dort ist zu lesen: »Die Gültigkeit des für Pisum vorgeschlagenen Gesetzeswerks bedarf einer weiteren Bestätigung, und daher wäre eine Wiederholung zumindest der wichtigeren Experimente wünschenswert.«