Ein Held unter den Genetikern |
Theo Dingermann |
21.10.2022 07:00 Uhr |
Mendel machte seine Beobachtungen an Erbsen, die er in Bezug auf sieben definierte Merkmale genau charakterisierte. / Foto: Foto: Picture Alliance/Mary Evans Picture Library
In diesem Jahr wäre einer der bedeutendsten Genetiker der Geschichte, der Augustinermönch Gregor Johann Mendel (1822 bis 1884), 200 Jahre alt geworden. Seine Kreuzungsexperimente mit Erbsen, über die er in den Sitzungen der Naturhistorischen Gesellschaft in Brünn am 8. Februar und 8. März 1865 referierte und die in den »Verhandlungen« dieses Vereins (IV. Bd. 1865, erschienen 1866) veröffentlicht wurden, sind ein Beispiel sorgfältig geplanter und durchgeführter Forschung, wie sie heute nicht mehr vorstellbar ist. Fachkollegen, die Mendel durchaus wohlgesonnen und hochrespektiert waren, konnten ihm damals intellektuell nicht folgen. So dauerte es fast 35 Jahre, bis die Bedeutung von Mendels Werk verstanden wurde.
Mendel hatte, wie alle seine Zeitgenossen, keine blasse Ahnung von Genen, Chromosomen oder Genomen, also den Molekülen und Strukturen, die für Vererbungsprozesse verantwortlich sind. Und dennoch gehen einige Historiker davon aus, dass er im Zuge seiner Arbeiten zunächst die Anfangshypothese einer nicht vermischenden Vererbung testete, die er dann empirisch induktiv weiterentwickelte. Das ist eine sehr moderne wissenschaftliche Herangehensweise.
Nichts überließ Mendel dem Zufall. In seiner Publikation schreibt er über die Vorversuche zu den eigentlichen Arbeiten: »Die Auswahl der Pflanzengruppe, welche für Versuche dieser Art dienen soll, muss mit möglichster Vorsicht geschehen, wenn man nicht in Vorhinein allen Erfolg in Frage stellen will. Die Versuchspflanzen müssen nothwendig
Und weiter heißt es: »Aus mehreren Samenhandlungen wurden im Ganzen 34 mehr oder weniger verschiedene Erbsensorten bezogen und einer zweijährigen Probe unterworfen [...]. Für die Befruchtung wurden 22 davon ausgewählt und jährlich während der ganzen Versuchsdauer angebaut. Sie bewährten sich ohne alle Ausnahme.«
Würde man heutige Molekularbiologen beispielsweise nach identitätsgebenden Charakteristika der Zelllinien fragen, mit denen sie arbeiten, würde man in staunende Augen schauen. Nicht zuletzt beruht ein immer wieder auftretendes Problem in den Naturwissenschaften – das Problem einer unabhängigen Nicht-Reproduzierbarkeit – darauf, dass mit schlecht charakterisiertem Zellmaterial gearbeitet wird. So würde etwa eine kritische Überprüfung der in vielen Laboratorien eingesetzten HeLa-Zellen ein katastrophales Bild zeigen.
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Letztlich beschreibt Mendel die Vererbung von sieben Paaren konstanter Charaktere. Fünf Merkmale betrafen die Pflanze selbst: die Blütenfarbe, die Form der reifen Schoten, die Farbe der unreifen Schoten, die Stellung der Blüten und unterschiedliche Stiellängen. Die verbleibenden zwei bezogen sich auf Farbe (gelb versus grün) und Form (rund versus runzelig) der Samen. Mendel verfolgte diese Pflanzenmerkmale über vier oder fünf Generationen und die Samenmerkmale über sechs Generationen.
Durch Kreuzung nach manueller Bestäubung produzierte und charakterisierte Mendel über acht Jahre mehr als 10.000 Pflanzen. Diese gewaltige, systematisch geordnete Datenbasis erlaubte es ihm, nicht nur zu erkennen, dass die von ihm ausgewählten Merkmale nach ganz bestimmten Regeln von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Durch detaillierte quantitative Auswertungen der Nachkommen aus seinen Kreuzungsexperimenten konnte er zudem Regeln ableiten, wie häufig ein Merkmal im Vergleich zu dem konkurrierenden Merkmal auftreten wird.
Natürlich hatten zur damaligen Zeit auch andere Wissenschaftler die für den Laien verwirrende Segregation beispielsweise von Samenfarbe und -form bei Erbsen beobachtet. Aber keiner außer Mendel erkannte die Regeln, auf deren Basis diese Merkmale nach unterschiedlichen Kreuzungsarten auftraten. Und selbst auf der Basis der quantitativen Auswertungen der Ergebnisse der Mendelschen Kreuzungsexperimente die statistischen Regeln abzuleiten, war alles andere als trivial.
Mendel war jedoch vertraut mit Phänomenen wie Variation und Stochastik. Und ganz offensichtlich hatte er ein großes Interesse an Zahlen. Daher war es nur konsequent, dass er die quantitativen Verhältnisse der von ihm ausgewählten Merkmale nicht nur einzeln, sondern auch in Kombination analysierte, um dann seine Ausgangshypothese einer »nicht vermischenden«, das heißt einer unabhängigen, Vererbung der Merkmale unter den Nachkommen bestätigt zu sehen. Diese Gesetzmäßigkeit gilt als die dritte Meldelsche Regel, die auch als »Unabhängigkeitsregel oder Neukombinationsregel« bekannt ist. Die anderen beiden heißen »Uniformitätsregel« und »Spaltungs- oder Segregationsregel«.
Dass Mendel zweifelsohne auch Daten verworfen hat, weil sie nicht zu seinen Hypothesen »passten«, wird ihm von Kritikern zum Vorwurf gemacht. Das ist aber überzogen. Denn man muss berücksichtigen, dass Mendel unter extrem fehleranfälligen Bedingungen forschte. Sein Experimentierraum war ein Wind und Wetter ausgesetzter Klostergarten und kein hochtechnisiertes Gewächshaus. Obwohl er intelligente Verfahren entwickelte, um beispielsweise Windbestäubungen auszuschließen, ist es plausibel, dass das nicht immer gelang. So klappten nicht alle Experimente und in solchen Fällen ist es wissenschaftlich korrekt, die entsprechenden Ergebnisse zu verwerfen, da sie das Gesamtergebnis des Versuchsansatzes extrem verfälscht hätten.
In der Publikation Mendels von 1866 findet man eine Auskunft zu potenziellen Limitationen der beschriebenen Forschungsarbeit, wie sie heute von guten Zeitschriften gefordert wird. Dort ist zu lesen: »Die Gültigkeit des für Pisum vorgeschlagenen Gesetzeswerks bedarf einer weiteren Bestätigung, und daher wäre eine Wiederholung zumindest der wichtigeren Experimente wünschenswert.«
Leider wurden die Erkenntnisse Mendels auch in unverantwortlicher Weise zur Stützung der Eugenik missbraucht, worauf auch in einem Editorial des Fachjournals »Nature« vom 19. Juli 2022 hingewiesen wird. Dies ist jedoch nicht Mendels Vermächtnis. Vielmehr ist Mendel als ein Wissenschaftler in die Geschichte eingegangen, der seine Experimente akribisch plante, geduldig auf die Daten wartete, diese qualitativ und quantitativ ordnete, um schließlich Regeln abzuleiten, die heute noch genauso gelten wie vor gut 150 Jahren, als sie formuliert wurden.
So kann man dem Nature-Editorialisten nur zustimmen, dass es sich im gegenwärtigen Zeitalter der extremen Konkurrenz in der Wissenschaft lohnt, einen Moment innezuhalten, und Mendel anlässlich seines 200. Geburtstags für sein scharfes Beobachten, seine rigorose Datenanalyse und seine Demut bei der Interpretation der Ergebnisse zu gratulieren.