Das Ziel sind jetzt 80 Prozent |
Eine Herdenimmunität wird bei den aktuell kursierenden Coronavirus-Varianten wohl Experten zufolge erst erreicht, wenn 80 Prozent der Bevölkerung immun gegen den Pandemieerreger sind. / Foto: Getty Images/NiseriN
Trotz der Fortschritte bei der Pandemiebekämpfung dringt der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) auf Geduld und nur vorsichtige Öffnungsschritte. Die gegenwärtige Entwicklung mit sinkenden Inzidenzen, leicht sinkender Belegung der Intensivstation und immer mehr Impfungen gebe Hoffnung, »dass wir die Pandemie bald kontrollieren können«, sagte Professor Dr. Lothar Wieler am Freitag in Berlin.
Dennoch blieben noch Maßnahmen zur Kontaktreduktion und die Einhaltung der Regeln nötig. »Die Pandemie ist quasi wie ein prall gefüllter Luftballon, den wir zusammen unter der Wasseroberfläche halten.« Das sei ein gemeinsamer Kraftakt. Würden schlagartig alle Maßnahmen aufgehoben, breite sich das Virus wieder rasant aus. »Um im Bild zu bleiben: Wenn wir den Ballon jetzt loslassen, springt er über die Wasseroberfläche. Wir dürfen also nicht ungezielt lockern.« Mit zunehmenden Impfungen könnten aber nach und nach auch einzelne Maßnahmen zurückgenommen werden.
Bis man weitgehend auf Maßnahmen und Regeln verzichten könne, müsse der Anteil der immunen Menschen in der Bevölkerung jedoch deutlich über 80 Prozent liegen. Auch dann werde es noch Infektionen und Ausbrüche geben, aber keine Wellen mehr. »Dann haben wir die Pandemie unter Kontrolle«, sagte Wieler. Damit gibt der RKI-Präsident eine höhere Zielmarke für die Herdenimmunität an, als die bislang angenommenen 60 bis 70 Prozent. Der Grund ist die höhere Infektiosität von B.1.1.7 um 30 bis 70 Prozent, die dadurch einen R-Wert von 4 aufweist. Die vorher kursierenden Varianten hatten einen R-Wert von etwa 3. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt inzwischen 80 Prozent als Zielwert für die Herdenimmunität an, so Wieler.
In den USA könnte der erhöhte Zielwert zu Probleme führen, heißt es in einem Bericht der Zeitung »New York Times« vom 3. Mai. Dort haben bereits mehr als 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mindestens eine Impfdosis gegen das Coronavirus erhalten, das Ziel der Herdenimmunität mit einer Durchimpfung von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sollte Experten zufolge im Sommer erreicht werden. Doch die britische Variante macht dem nun einen Strich durch die Rechnung.
Zum einen ist ein höherer Zielwert nötig und zum anderen sind Umfragen zufolge in den USA etwa 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung noch zurückhaltend, was eine Covid-19-Impfung angehe, heißt es in dem Bericht. Dies seien zwei Gründe von mehreren, dass in den USA Herdenimmunität vielleicht nicht erreicht werden könne. Ein weiterer sei, dass durch weitere Mutationen neue, noch ansteckendere Virusvarianten entstehen könnten. Dann müsste der Zielwert noch höher angesetzt werden.
Auch wenn das Herdenimmunitätslevel eventuell nicht erreicht werde, sei es wichtig, durch konsequente Impfungen die Hospitalisierungsrate und Mortalität niedrig zu halten, wenn Lockerungen eingeführt werden. Diese Zahlen seien in den USA schon stark gefallen. Zu eradizieren sei das Virus nicht, auf lange Sicht könnte es sich aber zu einem saisonalen harmloseren Infektionserreger entwickeln, wie Erkältungen oder die Grippe werden.
In den USA stamme der meiste Stress auf das Gesundheitswesen in der Pandemie von Personen mit speziellen Vorerkrankungen, vor allem in der Altersgruppe der über 60-Jährigen, erklärt Dr. Marc Lipsitch, ein Epidemiologe an der Harvard T.H. Chan School of Public Health in Boston, der Zeitung. »Wenn wir diese Gruppe gegen schwere Erkrankungen und Tod schützen können, dann werden wir Covid-19 von einem Gesellschaftszerstörer in einen normalen Infektionskrankheit verwandelt haben.«