Pharmazeutische Zeitung online
Akut- und Langzeiteffekte

Cholinesterase-Hemmer haben mehr als ein Ziel

Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny wurde laut der Berliner Charité vermutlich mit einem Cholinesterase-Hemmer vergiftet. Im Fokus der Berichterstattung steht die Wirkung dieser Substanzen auf die Acetylcholinesterase. Aber nicht nur sie kann gehemmt werden.
Sven Siebenand
25.08.2020  16:24 Uhr

Cholinesterase-Hemmer werden – in therapeutischen Dosen – unter anderem bei Morbus Alzheimer eingesetzt. Zudem gehören viele verschiedene Insektizide wie Phosphorsäureester und Thiophosphorsäureester sowie Carbaminsäureester in diese Klasse. Cholinesterase-Hemmer können aber leider auch als chemische Kampfstoffe eingesetzt werden. Beispiele hierfür sind die Substanzen Sarin und Soman ebenso die Nowitschok-Nervenkampfstoffe.

Als Inhibitoren der Acetylcholinesterase unterbinden sie den Abbau des körpereigenen Botenstoffs Acetylcholin. Sie verstärken somit dessen Effekt und wirken als Parasympathomimetika. Bei einer Vergiftung mit diesen Enzymhemmern reichert sich Acetylcholin im synaptischen Spalt an, wodurch Nervenzellen dauerhaft aktiviert bleiben. Typische Symptome einer Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern sind extrem kleine Pupillen, Speichelfluss, Krämpfe, Lähmungen und Herzversagen.

Nawalny wird laut der Berliner Charité derzeit mit Atropin behandelt. Das ist keine Überraschung, denn das Parasympatholytikum hebt die Wirkung von Acetylcholin auf. Bei einer Vergiftung mit Organophosphaten stehen auch Oxime wie Obidoxim als Antidota zur Verfügung. Sie sollen die Organophosphate aus der Bindungsstelle des Enzyms verdrängen. Allerdings sollten sie nach einer Vergiftung möglichst frühzeitig zum Einsatz kommen.

Noch ist nicht klar, mit welchem Cholinesterase-Hemmer der russische Politiker vergiftet wurde. Dass es eine Substanz aus dieser Klasse war, wird sich vermutlich durch die Messung der Enzymaktivität gezeigt haben. Wahrscheinlich ist man derzeit auf der Suche nach Fragmenten des ursprünglichen Wirkstoffs, um festzustellen, welche Vergiftung genau vorliegt. Auch ist noch unklar, wie das Gift in den Körper kam. Zahlreiche Möglichkeiten sind denkbar. Einige der bekannten Cholinesterase-Hemmer sind Flüssigkeiten, die über die Haut oder Schleimhäute absorbiert werden. Möglich ist aber auch eine Inhalation, wobei sich dann die Frage stellt, warum nur Nawalny Symptome zeigte und keine Personen aus seinem engeren Umfeld.

Langzeitfolge: Nervenschäden

Neben den akuten Folgen einer Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern sind auch Langzeitfolgen möglich. Bekannt ist die verzögerte periphere Neuropathie. Sie ist gekennzeichnet durch eine distale Degeneration einiger Axone des Nervensystems, die auch noch mehrere Wochen nach Exposition mit dem Giftstoff auftreten kann. An dieser Stelle ist es nicht die Acetylcholinesterase, die durch das Gift gehemmt wird, sondern ein anderes Enzym, die Nervengewebsesterase (Neuropathy Target Esterase, NTE). Diese Esterase ist wichtig für den Abbau von Phosphatidylcholin.

Der Verlust der NTE-Aktivität führt zu abnormal erhöhten Phosphatidylcholin-Spiegeln und zu einer Beeinträchtigung von Sekretionswegen in Neuronen. Dies kann eine Polyneuropathie bedingen, die in den unteren Extremitäten mit Parästhesien und Krämpfen beginnt und im weiteren Verlauf auch die oberen Extremitäten erfassen kann. Unter Umständen dauert es sehr lange bis zur Rückbildung der Symptome oder sie bleiben bestehen. Eine spezifische Therapie gibt es bislang nicht.

Zu möglichen Spätfolgen, die bei Nawalny zu befürchten sind, teilte die Charité passend dazu mit: »Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.«

Mehr von Avoxa