Versorgungsqualität und Compliance unter Rabattverträgen |
19.10.2010 16:31 Uhr |
Von Cosima Bauer und Uwe May / Der Patientennutzen von Arzneimitteln hängt von deren pharmakologischen Eigenschaften und der richtigen Anwendung ab. Der rabattvertragsbedingte Präparatewechsel kann zu Compliance- und Versorgungsproblemen führen.
Das belegt eine Studie, die der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) in Zusammenarbeit mit dem Marktforschungsinstitut IMS Health erstellt hat, und deren Ergebnisse in der PZ erstmals vorgestellt werden. In dem umfassenden Forschungsprojekt auf Basis von Patientendaten wurden die Auswirkungen und gesundheitsökonomischen Effekte der Rabattverträge für das System der GKV untersucht. Die Ergebnisse stellen das Rabattvertragssystem unter medizinischen und finanziellen Aspekten infrage. Mangelnde Therapietreue (Non-Compliance) und weitere anwendungsbezogene Probleme wie fehlende Persistenz (Therapieabbrüche) zählen zu den gravierendsten und gleichzeitig am wenigsten erforschten Problemfeldern der Arzneitherapie.
Experten gehen davon aus, dass jedes fünfte Rezept gar nicht erst in der Apotheke eingelöst wird (primäre Non-Compliance) und dass bei rund 50 Prozent der angewendeten Arzneimittel sekundäre Non-Compliance im Sinne des Abweichens von der Therapieempfehlung vorliegt. Die jährlichen Kosten für das deutsche Gesundheitssystem werden von verschiedenen Institutionen auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt (1).
Bei der Suche nach den Ursachen der Compliance- und Persistenzdefizite fällt auf, dass Patienten in der Mehrzahl der Fälle vorsätzlich von der Therapieempfehlung abweichen. Dies zeigt, dass reine Informationsvermittlung und rationale Überlegungen (auch zur pharmakologischen Austauschbarkeit von Präparaten) nicht zwangsläufig zum therapeutischen Ziel führen. Vermeidbar sind insbesondere Anwendungsprobleme, die durch die Gestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen verursacht werden.
Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass dem System der Rabattverträge hier eine besondere Bedeutung zukommt. So liefert eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller (BAH) bereits Hinweise auf Probleme durch einen rabattvertragsbedingten Arzneimittelaustausch, insbesondere hinsichtlich der Verträglichkeit und Nebenwirkungen der Medikamente (2).
Die Allensbach-Daten werden durch andere Studienergebnisse in der Tendenz bestätigt. In einer Untersuchung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein werden gravierende Umstellungs- und Complianceprobleme durch einen Großteil der niedergelassenen Ärzte im Zusammenhang mit den Rabattverträgen dokumentiert (3). In einer von der AOK beauftragten Studie hatte ein Viertel der Patienten Probleme wegen der Umstellung auf ein Rabattarzneimittel (4). Laut einer Umfrage der Hochschule Fresenius in Arztpraxen und Apotheken klagt ein Großteil der befragten Patienten über Nebenwirkungen nach der Umstellung auf ein rabattiertes Arzneimittel (5).
Trotz der vorliegenden Befragungs- und Untersuchungsergebnisse zu den Auswirkungen der Rabattverträge auf die Versorgungsqualität und Compliance hat die zurückliegende Erfahrung gezeigt, dass allein die Benennung der Probleme auf wenig Resonanz in den Fachkreisen und der Politik stößt, solange Fallzahlen und Kosten fehlen. Der BAH hat daher in Zusammenarbeit mit IMS Health ein umfassendes statistisch-ökonomisches Studienprojekt realisiert (6).
Dabei werden die rabattvertragsbedingten Versorgungsprobleme quantifiziert und aus der medizinisch-pharmazeutischen sowie volkswirtschaftlichen Perspektive bewertet. Die Ergebnisse sind die ersten wissenschaftlichen Daten, aus denen die durch Non-Compliance verursachten Kosten der Rabattverträge und die Beeinträchtigung der Versorgungsqualität abgeleitet werden können. Die Kosten sind zusammen mit anderen Kostenarten wie den Verwaltungs- und Umsetzungskosten bei Apotheken, Arztpraxen und Kassen in Relation zu den Einspareffekten durch die Rabatte zu setzen.
Studiendesign und Fragestellungen
Die Untersuchung basiert auf Datenbankanalysen, die sowohl Verordnungsstatistiken als auch Patientenkarrieren umfassen. Es wurde eine Datenbank verwendet, die kontinuierliche Patientenanalysen mit GKV-Verordnungen auf Langzeitbasis ermöglicht. Damit lassen sich Therapieverläufe arztübergreifend darstellen. Die Datenbank erfasst bundesweit alle Rezeptinformationen von GKV-Patienten mit der Abdeckung von 80 Prozent.
Eine weitere Datenbank, mit Daten von mehr als 2000 deutschen Facharztpraxen, liefert anonymisierte Konsultationsdaten. Die Daten umfassen Diagnosen (nach ICD-10 oder Originaltexte des Arztes), Verordnungen, Ein- und Überweisungen, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sowie demografische Daten zu Arzt und Patient. Die Auswahl der Arztpraxen erfolgt durch eine geschichtete Zufallsstichprobe aus allen mit EDV abrechnenden Praxen in Deutschland.
Für die Studie wurden drei Therapien ausgewählt, für die Rabattverträge vorliegen. Hierzu wurden die Daten von rund 3 Millionen Patienten, die mit Simvastatin, Antidepressiva und Humaninsulin behandelt wurden, untersucht. Folgende Fragestellungen liegen der Untersuchung zugrunde:
Weisen Patienten, die auf ein Rabattarzneimittel umgestellt wurden, eine schlechtere Compliance und/oder eine erhöhte Therapieabbruchrate auf als Patienten, die nicht umgestellt wurden?
Werden in der Gruppe der Patienten mit Wechsel auf ein Rabattarzneimittel mehr Ressourcen in Anspruch genommen?
Findet nach dem Wechsel auf ein Rabattarzneimittel ein Rückwechsel auf das Ursprungsprodukt statt (Switch-back-Analyse)?
Die datenbankgestützten Analysen und Berechnungen wurden begleitet von Befragungen von Ärzten und Patienten. So wurden Einschätzung und Bewertung der Mediziner und der betroffenen Patienten zu den Auswirkungen der Verordnungsumstellungen auf die Versorgungsqualität und die Compliance ermittelt.
Untersuchungsergebnisse
Die umfangreichen Studienergebnisse werden nachfolgend in ihren wichtigsten Kernergebnissen zusammengefasst:
Die auf ein rabattiertes Antidepressivum umgestellten Patienten brachen ihre Therapie häufiger ab als die Patienten ohne Präparatewechsel (Abb. 1). Die Zahl der Abbrecher einer Therapie mit Antidepressiva lag in der Gruppe der umgestellten Patienten um 50 000 pro Jahr über der in der Gruppe der Patienten ohne Präparate-Umstellung.
Unter Simvastatin-Therapie brechen die auf ein rabattiertes Präparat umgestellten Patienten ihre Therapie häufiger ab als die Patienten ohne Präparatewechsel. Hier liegt die Differenz bei 18 000 Patienten pro Jahr.
Außerdem haben umgestellte Patienten einen erhöhten Ressourcenverbrauch. Von den auf ein rabattiertes Antidepressivum umgestellten Patienten wurden innerhalb eines Jahres signifikant mehr Patienten ins Krankenhaus eingewiesen als von denen ohne Präparatewechsel.
So erhöht sich für einen Antidepressiva-Patienten, der einen rabattvertragsbedingten Wechsel hatte, das Risiko einer Krankenhauseinweisung um rund 20 Prozent gegenüber einem nicht umgestellten Patienten.
Rückumstellung in jedem zweiten Fall
Allein die zusätzlichen Krankenhauseinweisungen von Antidepressiva-Patienten belasten die GKV mit zusätzlichen Kosten von rund 20 Millionen Euro pro Jahr. Überdies entstehen volkswirtschaftliche Kosten durch Produktivitätsverluste und Arbeitsausfälle von 3,5 Millionen Euro pro Jahr. Außerdem kommt es in allen Indikationen durch Therapieabbrüche zu vermehrten Krankenhauseinweisungen, Arztbesuchen und Überweisungen an Fachärzte.
Des Weiteren zeigen Switch-back-Analysen, dass Rückumstellungen nach einem rabattvertragsbedingten Präparatewechsel keine Einzelfälle sind, sondern in vielen Therapiebereichen in bis zu 50 Prozent der Fälle stattfinden (Abb. 2). Rückumstellungen, die auf Probleme der Anwender mit dem Präparatewechsel hindeuten, gab es häufig bei kritischen Indikationen wie Diabetes, Parkinson und Herzrhythmusstörungen.
Mit der Sensibilität des Anwendungsgebiets steigt auch der Anteil der Rückumstellungen, die bereits nach der ersten Verordnung eines neuen Präparats erfolgen. In vielen untersuchten Indikationen erfolgt die unmittelbare Rückumstellung in jedem zweiten Fall. Bei Humaninsulin erreicht sie sogar knapp 80 Prozent. In diesen Fällen dürfte die Umstellung direkt nach der ersten Einnahme wieder gewechselt worden sein. Das ursprünglich verordnete Präparat dürfte damit zu den 4000 Tonnen Arzneimittelmüll in Deutschland gehören (7).
Die Ergebnisse der Datenbankanalysen wurden durch parallele Ärzte- und Patientenbefragung weiter untermauert. Diese Ergebnisse zeigen, dass die große Mehrheit der Ärzte bei Rabattverträgen häufig Verunsicherungen, Einnahmefehler und eine hierdurch bedingte schlechtere Wirksamkeit der Therapie bei den Patienten wahrnimmt. So berichten rund 70 Prozent der befragten Ärzte, dass Rabattverträge oft bis sehr oft zu einer Verunsicherung ihrer Patienten führen (Abb. 3). Knapp 60 Prozent der befragten Allgemeinmediziner sagen, dass Rabattverträge zu Einnahmefehlern bei den Patienten führen und 35 Prozent stellen eine schlechtere Wirksamkeit nach der Umstellung fest. 63 Prozent der befragten Hausärzte berichten von einer Verschlechterung der Compliance durch Rabattverträge.
Probleme sind die Regel
Bei der Patientenbefragung wurde ebenfalls bestätigt, dass der rabattvertragsbedingte Präparateaustausch die Qualität der Therapie negativ beeinflusst. Auffällig war auch, dass mehr als 85 Prozent der Patienten angaben, vor dem Wechsel über einen längeren Zeitraum kontinuierlich das gleiche Präparat erhalten zu haben. Dieses Ergebnis deckt sich mit einer vorangegangenen Datenbankanalyse von IMS Health. Die Argumentation verschiedener Krankenkassen, erst die Rabattverträge garantierten eine Verordnungskontinuität, entbehrt damit einer Grundlage.
Im Ergebnis konnten durch die Studie signifikante Abweichungen hinsichtlich der Versorgungsqualität und Compliance zwischen Patienten, die auf ein Rabattprodukt umgestellt wurden, und Patienten ohne Produktwechsel festgestellt werden. Zudem konnten deutliche Hinweise auf den erhöhten Ressourcenverbrauch der Wechsler in der Datenanalyse gefunden werden.
Die Unterschiede in der Antidepressiva- und Simvastatin-Therapie waren signifikant. Auch konnte nachgewiesen werden, dass viele Patienten, die auf ein Rabattprodukt umgestellt wurden, wieder zu ihrem Ursprungsprodukt zurückwechselten. Dabei ist die Wechselrate deutlich höher als bei anderweitig begründetem Wechsel des Arzneimittels.
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass Probleme mit Rabattvertragspräparaten keine Einzelfälle sind, sondern die Regel. Eine gesetzliche Regelung muss demnach nicht dem Einzelfall, sondern dem Regelfall Rechnung tragen und darf für Patienten weder finanziell noch praktisch eine Hürde darstellen. Auch der Gesetzgeber hat erkannt, dass Rabattverträge einen negativen Einfluss auf die Compliance und somit auf die Patientengesundheit haben. Die Möglichkeit einer Wahlentscheidung hinsichtlich des konkreten Präparates soll durch eine Mehrkostenregelung, wie sie im Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts (AMNOG) vorgesehen ist, geschaffen werden. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Die konkrete Ausgestaltung der Regelung ist jedoch nicht sinnvoll. So ist die nachträgliche Erstattung der Kosten durch die Kasse für die Patienten intransparent, bürokratisch und unsozial. Vor dem Hintergrund der genannten Daten sind die heutigen Rabattverträge weder medizinisch noch ökonomisch sinnvoll.
Bei der Bewertung der gesundheitsökonomischen Daten ist zu berücksichtigen, dass hinter den kostenrelevanten Versorgungsmängeln immer Patienten mit persönlichen Krankheitsgeschichten stehen. Eine nüchterne Bilanzierung von Einspareffekten und Folgekosten der Rabattverträge kann dem nicht gerecht werden. Die Fortsetzung und weitere Verbreitung des Rabattvertragssystems ist deshalb weder mit dem Patientenwohl noch mit den Interessen der Heilberufe und den nachhaltigen Einsparzielen der Krankenkassen vereinbar. /
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Vgl. eine Metaanalyse, der die genannten Zahlen entnommen sind: Gräf, M., Die volkswirtschaftlichen Kosten der Non-Compliance; Schriften zur Gesundheitsökonomie Bd. 56, Bayreuth 2007.
Institut für Demoskopie Allensbach, Gesundheits- und Arzneimittelversorgung in der deutschen Bevölkerung, Eine Repräsentativbefragung der Bevölkerung ab 16 Jahre, Umfrage 10042, Allensbach 2009.DocCheck Online Studie: Rabattverträge und Präparatsubstitution. DocCheck Medical Services GmbH. Köln, 2008.
WidO: Arzneimittelrabattverträge der AOK. Pressemitteilung. 6. Mai 2009.
Neises G., Menges A., Palsherm I., Stangl J., Schneider C., Bausch J.: Machen Rabattverträge krank? In: Pharmazeutische Zeitung, 154. Jahrgang, 19. November 2009. S. 47ff.
IMS Health, Einfluss von Rabattverträgen auf die Arzneimittelversorgung, Frankfurt 2010.
In der Summe. stellt dies für die GKV eine Ressourcenverschwendung im Wert von rund 4 Mrd. EUR dar. Vgl. Bierwirth, R., Paulst, R., Compliance und Empowerment in der Diabetologie, Wie motivieren wir Diabetiker in der Praxis?, Bremen 2004, S. 13 und Heier, M., Mein Patient macht nicht, was ich will, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 23, S. 71.