»Es hat schon zehn Jahre gedauert« |
29.09.2015 09:08 Uhr |
Von Daniel Rücker und Ev Tebroke, Berlin / Am 3. Oktober 1990 wurde aus DDR und BRD wieder Deutschland. Magdalene Linz, die damals als angestellte Apothekerin arbeitete und heute Präsidentin der Apothekerkammer Niedersachsen ist, und ABDA-Präsident Friedemann Schmidt haben sich von Beginn an für den Einheitsprozess der Apothekerorganisationen in Ost und West engagiert.
PZ: Am kommenden Samstag jährt sich der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 25. Mal. Ausgangspunkt war der 9. November des Vorjahres. Welcher war für Sie der wichtigere Tag?
Linz: Für mich ist der Mauerfall der wichtigere Tag. Als in Hannover die ersten Trabbis auftauchten, das war schon bewegend – eine solche Aufbruchsstimmung.
Schmidt: Für mich ist ebenfalls der 9. November 1989 der bedeutendere Tag: Dieses Erlebnis, plötzlich über die Grenze gehen zu können, das Versagen dieses Repressionsapparates. Der dritte Oktober 1990 ist dann eher der formale krönende Abschluss des Ganzen gewesen.
25 Jahre wiedervereinigt: Trotz deutlicher Unterschiede zwischen den Apothekensystemen in Ost- und Westdeutschland verlief der Zusammenschluss der Berufsorganisationen ziemlich reibungsarm .
Foto: dpa
PZ: Wo standen Sie damals in Ihrer beruflichen Laufbahn?
Linz: Ich war angestellte Apothekerin und 1989 Vorsitzende des Bundesverbandes der Angestellten in Apotheken geworden. Nach dem Mauerfall bin ich regelmäßig in den Osten gefahren und kam auch in Kontakt mit Kollegen.
Schmidt: Ich habe mich am 1. September 1990 selbstständig gemacht. Wir haben die Apotheke in Leipzig, in der meine Frau damals gerade ihr Praktisches Jahr beendete, übernommen. Eigentlich sollte sie das machen, sie bekam aber am 10. August 1990 unser erstes Kind. So wurde ich Kleinunternehmer.
PZ: Wie war das Apothekenwesen in der DDR organisiert?
Schmidt: Die DDR-Führung verstand Gesundheitswesen und Arzneimittelversorgung als staatliche Aufgabe in staatlichen Organisationen. Die Apotheken wurden im Zeitraum von 1945 bis Mitte der 70er Jahre fast alle verstaatlicht, bis auf einige wenige Ausnahmen, die weiter privat geführt werden durften. Das Gesundheitswesen war kein sehr politisierter Bereich, das Apothekenwesen noch weniger, daher ging der Prozess der Privatisierung recht schnell.
PZ: In der DDR gab es einige Versorgungslücken, galt das auch für die Arzneimittelversorgung?
Schmidt: Es gab zunehmend Versorgungslücken. Die DDR-Pharmazie verfügte über einen relativ überschaubaren Arzneischatz, der an den fachlichen Bedürfnissen orientiert war. In den wesentlichen Wirkstoffklassen gab es schon immer Wirkstoffe, wenn auch relativ wenig Auswahl. In den wichtigsten Indikationen war eine angemessene Versorgung möglich. Die Innovationen, die primär in den westlichen Ländern entstanden, wurden nur sehr restriktiv über sogenannte Sondernomenklaturen in den Markt gebracht. Es war im Grunde eine Dauer-Rationierung. Vor allem in der späten Phase der DDR gab es ein wirkliches Versorgungsproblem. Von Neuentwicklungen war der Patient, wenn er sich nicht in einer Spezialversorgungseinrichtung befand, abgekoppelt.
Linz: Wie die Kollegen damals berichteten, waren Apotheker und Pharmazieingenieure sehr gefragt in der Lösung von Problemen. Weil es keine Arzneimittel gab, mussten Eigenproduktionen die Versorgung sicherstellen. Auch der Kontakt zu den Ärzten soll ein anderer gewesen sein, so eine Art Notgemeinschaft. Sie konnten nichts verordnen, was nicht verfügbar war oder verfügbar gemacht werden konnte. Die Kooperation auf Augenhöhe war damals in der DDR möglicherweise besser, weil beide daran interessiert waren, die Bevölkerung zu versorgen.
Schmidt: Es gab im Bereich der akademischen Heilberufe eine starke Parallelität in der Entwicklung. Die Studiendauer war vergleichbar, die Gehaltsstruktur war relativ vergleichbar, wir waren alle Angestellte. Es gab eine verordnete Gleichberechtigung, die tatsächlich auch dazu führte, dass man sich auf sogenannter Augenhöhe begegnete. Aber wie wahrscheinlich jedes Gesundheitswesen war auch das der DDR arztzentriert. Der Kreisarzt war weisungsbefugt gegenüber dem Kreisapotheker. Es gab eine hierarchische Struktur. Aber es stimmt, für die Ärzte war es essenziell, mit der Apotheke gut zusammenzuarbeiten. Denn wir haben nicht nur in der Rationierung mitgewirkt – wir haben Zuteilungen vorgenommen für die Patienten. Wir haben Fertigarzneimittel ausgeeinzelt. Alles heutzutage undenkbar. Wir haben viele Eigenproduktionen gehabt. Es gab ganze Vorschriftensammlungen für Nacharbeitungen von Fertigarzneimitteln im Defektur- und Rezeptur-Maßstab. Das hat natürlich dafür gesorgt, dass Apotheker anerkannt waren als wichtige Beteiligte am System. Manche Kollegen idealisieren das im Rückblick ein wenig. Es war keine ideale Situation, weil alle Mangelverwaltung betrieben haben. Und sowas schweißt zusammen.
PZ: Stichwort Zusammenarbeit: Wann kamen Ost- und Westapotheker zusammen, und wie fanden die ersten Kontakte statt?
»Es ging auch darum, für die Angestellten in den neuen Bundesländern Strukturen zu schaffen.«Magdalene Linz, Präsidentin der Apothekerkammer Niedersachsen.
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Linz: Viele Apotheker aus dem Osten haben sich an uns als Angestelltenvertretung gewandt. Sie versuchten schnell, ein Netzwerk zu knüpfen mit den Westapothekern. Es ging aber auch darum, für die Angestellten in den neuen Bundesländern Strukturen zu schaffen. Nachdem die Verbandsstrukturen da waren, ging es darum, auch eine eigene Gewerkschaft zu haben. Die Kollegen wollten auf gar keinen Fall wieder eine große Einheitsgewerkschaft, wie in der DDR üblich. Deswegen haben sie sich lieber uns, dem BVA, angeschlossen als einer großen Angestelltengewerkschaft.
PZ: Wann haben die Apotheker in Ostdeutschland begonnen, ihre Verbandsstrukturen aufzubauen?
Schmidt: Es gab erste informelle und dezentrale Treffen der Kollegen in den pharmazeutischen Zentren. Die Entwicklung war regional nicht synchron. Es ging darum, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Es gab aber auch Ängste: Angst vor der Selbstständigkeit, Angst vor Unternehmertum, Angst davor, Schulden zu machen. Es wurden dann Hospitationen im Westen organisiert. Ich selbst habe mich 1990 vier Wochen bei einem Kollegen in Frankfurt weiterbilden können. Im Februar 1990 entstand dann das berühmte Kulmbacher Papier, eine Initiative der bayerischen und thüringischen Kollegen. Da wurde das erste Mal klar definiert, wohin wir wollten: Das freiheitliche, freiberufliche System der alten Bundesländer sollte auch in Ostdeutschland aufgebaut werden; keine staatlichen Apotheken mehr, sondern Privatisierung. Ab Mitte des Jahres wurde dieser Privatisierungsprozess strukturiert umgesetzt. Im Grunde sind die Apotheken bereits in den Jahren 1990/91 verkauft worden.
PZ: Welches Ziel hatten die West-Apotheker? Gab es auch Vorstellungen, gemeinsam mit den Ost-Apothekern eine Synthese aus beiden Systemen zu entwickeln?
Schmidt: Ich war damals Sozialdemokrat, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in Leipzig, und habe deshalb viele Veranstaltungen der SPD im Westen zu gesundheitspolitischen Themen verfolgen können. Es gab durchaus politische Kräfte in den alten Bundesländern, die eine Veränderung des Gesundheitssystems hin zu einem stärker staatlich kontrollierten System unterstützt hätten. Aber das waren Scheingefechte. Eigentlich stand schnell fest, dass es das westliche System werden wird. Alles andere wäre auch unsinnig gewesen. Das DDR-Gesundheitssystem hat zwar funktioniert, war aber insuffizient.
PZ: Beim Aufbau der Kammern und Verbände im Osten haben Mitgliedsorganisationen im Westen über einige Jahre jeweils eine Organisation im Osten unterstützt und beraten. Wie lief das ab?
Linz: Es bildeten sich Partnerschaften. In Niedersachsen hatten wir Sachsen-Anhalt als Partner. Wir haben als Kammer die Apotheker dort beim Aufbau einer Kammer unterstützt. Auch die Bezirksregierung, was beispielsweise auch die Apothekenaufsicht betraf, hat Mitarbeiter nach Sachsen-Anhalt geschickt, um dort eine entsprechende Verwaltungsstruktur aufzubauen. Wir hatten dann auch schnell Besuch aus Sachsen-Anhalt.
PZ: Mit wem hat Sachsen zusammengearbeitet?
»All das, was die Selbstverwaltung hier aufgebaut hatte, ist im Osten sehr gut aufgenommen worden.«Friedemann Schmidt, ABDA-Präsident
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Schmidt: Mit Baden-Württemberg. Die baden-württembergischen Kollegen haben den Sächsischen Apothekerverband quasi mitaufgebaut. Die Kollegen aus dem ersten SAV-Vorstand sagen ganz klar, dass das ohne diese Unterstützung auch nicht gelungen wäre. Es gab keine Tradition im Verbandswesen, niemand kannte Regeln, demokratische Prinzipien mussten eingeübt werden. Das war manchmal gar nicht so leicht, da haben die West-Kollegen viel Aufklärungsarbeit und Hilfe geleistet, für die wir immer dankbar sein werden.
PZ: Nach dem Beitritt sind die Apothekerorganisationen in der ABDA aufgegangen. Wie lang hat es gedauert, bis daraus eine Organisation entstanden ist, in der sich alle Apotheker in Deutschland gut aufgehoben fühlten?
Linz: Ein eindrucksvolles Erlebnis war der Apothekertag 1990 im Kongresszentrum in Berlin. Der erste deutsch-deutsche Apothekertag mit 2000 Kollegen. Da hatte man wirklich eine Gänsehaut.
Schmidt: Das war eine sehr beeindruckende große Veranstaltung. Da hat die freie Pharmazie mal so richtig gezeigt, was sie kann. Das Prinzip des Zusammenhalts der Genossenschaften hat sehr stark gewirkt. Die Idee kam bei den Ostdeutschen sehr gut an, weil sie natürlich zunächst Halt gesucht haben. Sie wollten gern selbstständiger sein, aber nicht auf sich allein gestellt. All das, was die Selbstverwaltung hier aufgebaut hatte, genossenschaftlicher Großhandel, Versicherungen, all das ist im Osten sehr gut aufgenommen worden. Die Frage, wann wir wirklich angekommen sind, ist schwer zu beantworten. Die ersten Jahre gab es schon noch Differenzen. Es gab eine harte Debatte über Niederlassungsbeschränkung, auch aus Angst vor Wettbewerb. Das berufspolitische Wirken der neuen Organisationen war am Anfang auch wettbewerbsbeschränkend. Am Schluss hat es schon zehn Jahre gedauert, bis wir alle Werte gemeinsam vertreten konnten. Spätestens um die 2000er Jahre gab es ein einheitliches berufspolitisches Wertegerüst in Deutschland.
Linz: Bei manchen entstand zunächst auch der Eindruck, etwas übergestülpt zu bekommen. Für manches, was vorher war, gab es aber durchaus Wertschätzung, wie etwa für Standard-Rezepturen. Weil in der DDR viel hergestellt worden war, gab es Kenntnisse und Erkenntnisse, wie man das auf entsprechend qualitativem Niveau machen könnte. Die Rezepturen aus den ehemaligen Standard-Rezepturen sind ja teilweise auch ins NRF aufgenommen worden. Es hat eine Weile gedauert, bis man auch im Westen erkannt hat, dass es im Osten einiges gab, was man übernehmen könnte.
PZ: Gibt es etwas aus dem Apothekenwesen der DDR, von dem die Apotheker auch heute profitieren könnten?
Schmidt: Etwas mehr Kooperationsbereitschaft, etwas weniger Wettbewerb und etwas mehr Kommunikation der Apotheken untereinander würden uns gut tun. Das ist etwas, was wir aus der DDR eingebracht haben. Der Gedanke von Netzwerken, der professionsübergreifende Ansatz, mit Ärzten zusammenzuarbeiten bei der Versorgung bestimmter Patienten. Das waren Dinge, die in der DDR durchaus etabliert waren. Zwar alles aus der Not heraus, aber dennoch gehörte es zum Selbstverständnis des Berufs dazu. Die Pharmazie in Deutschland hat sich durch die Vereinigung verändert. Wir haben eine andere Diskussion, als wenn die West-Kollegen allein geblieben wären. /